Wenn auch die hier überspitzt nachgezeichneten Charakterzüge nicht durchgehend in dieser Eindeutigkeit zur Geltung kamen, so wird hieraus doch verständlich, weshalb mich die Lebensregel lathe biosas, "lebe verborgen!" der Stoiker besonders ansprach: in diesem Zusammenhang kann man auch meine fast manische Besessenheit sehen, mit der ich mich des Werks Kafkas annahm, von dem ein Romanschluss bekanntlich lautet: "Es war, als sollte die Scham ihn überleben" und dessen späte Erzählung Der Bau, die ich allerdings damals wohl noch nicht kannte, von einem in einem System von unterirdischen Gängen lebenden maulwurfartigen Wesen handelt.

    Meine Scham-Anfälligkeit (der Ausdruck Anfälligkeit trifft es gut, denn es handelte sich dabei um ein psycho-vegetatives Geschehen – mit dem Erleben der Scham ging eine vegetative Reaktion, ein Rotwerden, einher –, das anfallartig über mich kam und dem ich ohnmächtig ausgeliefert war) ging auf frühere Scham-Erlebnisse in der Kindheit zurück, von denen mir eines besonders im Gedächtnis geblieben ist: ich konnte, als ich mit sechs zu Ostern 1948 in eine kleine Dorfschule eingeschult wurde, schon lesen. Aus irgendeinem Anlass wurde ich von der Lehrerin mit dem bekannten Spottvers in die Ecke geschickt (vermutlich musste die Klasse ihn im Chor wiederholen), der sich mir wohl von dieser Bestrafung eingeprägt hat: "Schäm' dich und stell' dich in die Eck', und wenn du dich genug geschämt hast, dann komm' da wieder weg".

    Auf der Suche nach dem, was mein Leben ausgemacht hat, vergegenwärtige ich mir jene Zeit in der Vergangenheit, in der die Psychoanalyse mein Leben, meine Gedanken weitgehend bestimmt hat, wobei ich mir über die Bedeutung im klaren bin, die sie für mein späteres Leben gehabt hat und bis heute hat. Für mich steht fest, dass sie eine lebenserhaltende Funktion für mich hatte. Zwar war ich nicht zum Selbstmord fähig – triviale Feststellung, da ich ja noch lebe: "Der bringt sich nicht um!" – eine Bemerkung, die D.A. einmal über einen Patienten, der sich mit Selbstmordgedanken trug, gemacht hat, und die ich damals auch auf mich bezogen habe. Allerdings beschäftigte ich mich seit meiner Schulzeit, angefangen mit der Lektüre von Camus' "Mythos von Sisyphos, ein Versuch über Das Absurde", mit dem Thema Selbstmord, und mein Leben war über eine lange Zeit vom Gedanken an den Suizid als einem immer offenstehenden Ausweg beherrscht, ja ich kann sagen, dass er eine Art Trost für mich bedeuteten.