Die radikale Veränderung, die ich im Sinn habe, geht mit einem radikalen Bruch mit bisherigen
Lebensentwürfen, mit der Abkehr von gesteckten Zielen einher – so hat sich Rousseau
mit etwa vierzig seiner Reform, einer solchen radikalen Verwandlung, unter- zogen –, wie sie
auch von Sartre in "Der Idiot der Familie" am Beispiel Flauberts dargelegt
wird: dessen Scheitern bei dem Versuch, die bürgerliche Laufbahn einzu- schlagen, so wie es von ihm –
zuallererst von seinem Vater, dem Chefarzt – erwartet wurde ("der Zusammenbruch von
Pont-L'Évêcque"), und die Umwandlung in einen Schriftsteller.
Ein Bruch, mit dem die Wertmassstäbe, die man an das Leben angelegt hat und nach denen vor allem anderen
der Erfolg ("Man muss aus seinem Leben etwas machen, etwas, womit man sich sehen lassen kann")
zählt, abgelegt werden und ein erfolgloses und reduziertes Leben ("Aus ihm ist nichts geworden"
– im Reden meiner Mutter ["Mother's speech"] kam wiederholt der wie eine schlimme Prophezeihung klingende
Spruch vom verpfuschten Leben vor) doch Geltungsanspruch für sich erheben kann. Ein Leben,
das sich auf den beiden nach Freud zentralen Gebieten, dem der Arbeit und dem der
Liebe, nicht verwirklichen konnte, wird erst durch ein Aufgeben bisheriger Werte – eine
Umwertung – annehmbar. Ein Kraftakt gleich einer mentalen Selbstverstümmelung, mit dem ich mich
als Aussenseiter in einer Gesellschaft der Selbstdarstellung und der Vernetzung darin eingerichtet habe,
weitgehend im Abseits (daher besitze ich auch kein Handy, da der Bedarf an Kommunikation fehlt), an ihrem Rand zu
leben.
Es ist, wie um mir mit dieser desillusionierten Rückschau zu versichern, dass es angesichts meiner
Voraussetzungen (meiner Conditio) nicht ganz unerträglich gewesen ist, solchermassen
eingeschränkt gelebt zu haben. Ein Leben, bei dem man zwar nicht von einem bewusst zu bringenden Opfer
sprechen kann, vielmehr von einem Dauer- zustand von Verlust-Erfahrungen und Versagungen, einer langen Kette von
mehr oder weniger auferlegten Verzichten ohne einen Freiheitsspielraum. Im Vergleich dazu beispielsweise die
Verzichts-Logik im Fall Kafkas (der übrigens Flaubert, insbesodere seine Éducation
sentimentale, besonders schätzte): gebunden durch sein Selbstver- ständnis, nach dem der Verzicht
auf Leben – exemplarisch hierfür seine Selbst-Stili-sierung als "Hunger-Künstler"
– Voraussetzung für sein Künstlertum ist, wird der innere Konflikt zwischen Leben und Schreiben
von ihm zugunsten des Schreibens und gegen eine bürgerliche Ehe, kulminierend in seinen gescheiterten
"Heiratsversuchen", entschieden. Es war diese Lebens-Untauglichkeit: "Ich könnte leben und
lebe nicht", worin ich wohl mich selbst wiedererkannte, was mich in einer bestimmten Lebensphase zu einem
Besessenen in Sachen Kafka-Werk werden liess; ich würde diese Affinität als
Seelenverwandtschaft der Zu-kurz-Gekommenen bezeichnen.