Andererseits: in einer Abhängigkeits-Beziehung, so z.B. in der des Kindes zur Mutter, glaubt ersteres, die Mutter zu schädigen, indem es sich selbst schädigt, sich verletzt oder krank wird. Der/die Jugendliche meint, indem er/sie die Erziehungs- bemühungen von Eltern, Lehrern usw. torpediert, ihre Macht schmälern zu können. Ein Ausdruck von Ressentiment war, so gesehen, sicherlich auch mein Bruch mit der Religion, der vor allem meine sehr religiöse Mutter traf und mit dem ich ihre durch ihre katholische Moral vermittelte Macht über mich einschränken wollte. Aus einem elemen- tareren existenziellen Bedürfnis erforderte es natürlich auch der Selbsterhaltungstrieb, die einengenden Moralvorstellungen, ihre Leibfeindlichkeit, die schon beschriebene Tabuisierung alles Sexuellen, von der auch ich geprägt war, zumindest in der Theorie abzuwerfen, allerdings zunächst nur symbolisch, indem ich am Sonntag nicht mehr zur Messe ging und ebenso die Beichte strich, die beiden wichtigen Pfeiler der Macht, mit der die Religion mich in psychischer Unfreiheit hielt. Abgesehen davon ist es eine Zumutung für den logisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Geist, die dogmatisch behaupteten Unmöglichkeiten, von der Unbefleckten Empfängnis bis hin zur Auferste- hung Jesu, zu akzeptieren, sowie darüber hinaus an die Existenz Gottes und an die eines Paradieses, an ein Leben nach dem Tod glauben zu sollen.
Auf Anregung D.A.s hin las ich mehrere Bücher zum Thema "Neid" bzw. "Ressentiment": von M.Scheler, O.Schoeck, sowie von Nietzsche die Genea- logie der Moral. Mein Interesse für Sartre war nach wie vor so gross, dass ich mir die fünf Bände des Idiot der Familie kaufte (von denen ich mich mit dem ersten intensiv und mit den übrigen zumindest bis zum Band vier beschäftigt habe, wie die Unterstreichungen belegen), seine umfangreiche Flaubert-Studie, in der er dessen Ressentiment anhand der Analyse seiner wenig bekannten frühen Werke sowie der Psychodynamik auf den Grund geht, die ihn in eine Krise – der "Zusammenbruch von Pont L'Évècque" – führt und aus der er schliesslich, so die Interpretation Sartres, als Schriftsteller hervorgeht,.
D.A. gab mir Anregungen; so ermutigte er mich, wieder aus dem Französischen zu übersetzen. Ich weiss nicht mehr, ob ich das Buch Le traître, ein autobiografischer Text von André Gorz, der als Halbjude Oesterreich verlassen hatte und zu einem Franzosen geworden war, mit einem Vorwort von Sartre, an dessen Übersetzung ich dann viele Monate arbeitete, von ihm erhalten habe. In der Analysen-Unterbrechung, als ich kurz- zeitig mein erstes Auto, den VW Käfer besass, hatte ich die Familie in Westdeutschland besucht, Mutter und Vater, den ich bei diesem Besuch zum letztenmal sah (er starb zwei Jahre später im Alter von 73), sowie die Geschwister. Ich hatte, wie erwähnt, die Analyse abgebrochen und war nun frei, den verhassten Klinik-Job nach knapp zwei Jahren zu beenden. Nun war ich arbeitslos mit der Aussicht auf eine ABM-Stelle (Arbeitsbeschaffung), und bekam Arbeitslosengeld.