Jetzt, da ich mich mit meinem Analysenbericht bei dem Übergang von der ersten zur zweiten Analyse
befinde, drängt es sich mir auf, dass das psychische Geschehen dieser zweiten Analyse komplexer und eine
Darstellung daher schwieriger ist, und zwar nicht nur deshalb, weil sie etwa eine doppelte Zeitspanne umfasst,
sondern weil die Dynamik, so scheint es mir, eine andere war, sie mit ihrer psychischen Zielrichtung mir zwar noch
gegenwärtiger ist als die erste, die sich auf die Auseinandersetzung mit den verinnerlichten Eltern zur
Erlangung der Souveränität über die eigene Sexualität (der bereits zitierte
Durchbruch zum Weibe) konzentrierte, das Gebiet psychischen Gesche- hens, das nach Freud als
ödipal bezeichnet wird.
Doch zunächst zu den etwa zwei Jahren, die zwischen den beiden Analysen lagen: die recht dunkle
Hinterhaus-Wohnung; irgendwann, als ich meine letzten Ersparnisse aufgebraucht hatte, der Gang zum Sozialamt,
wo ich zum Überleben ein Darlehen von ein paar hundert DM bekam; dann mein Klinik-Job als Telefonist beim
Hol- und Bringedienst, mit turnusmässigem Rund-um-die-Uhr-Dienst, bei dem ich am Telefon die Aufträge
der Stationen aufzunehmen und an die Kollegen weiterzugeben hatte, die dann mit Blutproben, Blutkonserven usw,
zwischen den Stationen, der Blutbank oder dem OP unterwegs waren. Im Nachtdienst war ich es, der, ausgestattet
mit einem Pieper, diese Aufträge ausführen musste. Dazu kam, gemeinsam mit dem Kollegen vom
Krankentransport, der Transport von in der Nacht Verstorbenen in die Pathologie und das Umbetten auf eine "Wanne".
Bis dahin hatte ich in meinem Leben noch nie einen Toten gesehen, und so brachte mich dieser direkte Kontakt
mit den Leichen während der Nachtdienste dazu, auf eine viel konkretere Weise darüber nachzudenken, was
es heisst zu sterben. So sass ich im Sommer manchmal frühmorgens vor Beendigung meiner Schicht um sechs
Uhr, wenn es nichts zu tun gab, in einem Sessel vor einem grossen Fenster und beobachtete den Sonnenaufgang,
wozu ich sonst ja eher selten Gelegenheit hatte, da ich normalerweise im Sommer nicht so früh aufstand,
und dabei stellte ich mir, in einer gewissen Identifikation mit den Toten, vor, wie es wäre, wenn dieser
Sonnenaufgang der letzte in meinem Leben wäre.