Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, wurden in dieser Zeit vor ihren Prü- fungen unsere Zusammenkünfte immer seltener, und abgesehen von dem gegebenen objektiven Grund für diese Veränderung, die wachsende Distanz, glaubte ich, wie bereits gesagt, die Anzeichen einer Absetzbewegung, eines Rückzugs aus der Beziehung, der sich auch schon in ihrem sexuellen Verweigeruns-Verhalten anzu- deuten schien, zu erkennen. So stellte sie mich eines Tages vor vollendete Tatsachen, indem sie mit ihrem Sohn die Zimmer tauschte und "unser" Zimmer für ihn einrichtete, während sie selbst in das kleine Zimmer zog, das vorher sein Kinderzimmer gewesen war. Dies liess sich schon als Aussage interpretieren: dass in ihrem Leben nur für einen Partner Platz war, und das war ihr Sohn. In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist es dann später auch nicht eindeutig so, dass ich mich von ihr getrennt habe, auch wenn ich es war, der die Trennung ausgesprochen und damit faktisch vollzogen hat.
  [Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn schien dem zu entsprechen, was in einem Beitrag, an den ich mich erinnere, aus psychoanalytischer Sicht als Falsche Partnerschaften charakterisiert wurde: eine besonders enge und exlusive Beziehung zwischen einem Elternteil, in den überwiegenden Fällen der Mutter, und dem Kind.]

  Eine Anmerkung zum Thema verdanken: Tatsächlich verdankten wir ja beide unsere Erfolge, die Erlangung des Dipoms ebenso wie, was sie betraf, das bestandene Staatsexamen, zu einem wesentlichen Teil der Analyse, sie indirekt, durch die Wirkung, die die Analyse auf mich, auf mein Verhältnis zu ihr und damit auch auf den Verlauf, auf die Dynamik unserer Beziehung ausübte, durch die sie wohl erst die Motivation erhielt, einen neuen Anlauf zu wagen und ihr Studium wiederaufzunehmen. Solche Gedanken, so auch, dass sie nicht mir Dank schuldete, machte ich mir aber wohl erst später, bei grösserem zeitlichen Abstand und nachdem ich die Trennung von ihr verarbeitet hatte.

    Über fünfzehn Jahre später erhielt ich einen Brief von ihr (den ich nicht beant- wortete, da ich nicht den Eindruck hatte, dass sie darauf eine Antwort erwartete), in dem anklang, dass sie in Anbetracht der Zeit nach unserer Trennung, der anscheinend weniger erfreulichen mit Männern gemachten Erfahrungen, sehr positiv, fast verklärend, sicherlich aber nicht als eine, die verlassen worden war, auf unsere Beziehung zurückblickte; es schien soetwas wie die Andeutung einer Ahnung mitzuschwingen, wie es hätte sein können, wenn es mit uns weitergegangen wäre. Aber das war wohl eher meine Wunschphantasie. Der Brief endete, wenn ich mich an den Wortlaut richtig erinnere, mit: Ich umarme dich zärtlich.

    War es – verspätete – Dankbarkeit, die sie zu dem Schreiben diesen Briefes bewogen hat? Ich fragte mich allerdings, ob sie jemals realisiert hat, dass es meine Analyse war, der sie – siehe oben – ebenso wie ich viel verdankte.