Wieder einmal Gedanken über das paradoxe Öffentlichmachen von intimen Lebenserinnerungen: Sie
gehören nur mir, einerseits; ich gebe mir Mühe, überlege mir, was bzw. wieviel ich anderen von mir
mitteile. Andererseits will ich als der wahr- genommen werden, der ich wirklich bin – fragt sich nur, in welcher
Art von Öffent- lichkeit. Da sind meine viele Jahre zurück liegenden Psychoanalyse-Erfahrungen; meine
Erinnerungen an sie habe ich elektronisch "zu Papier" gebracht, sie liegen – unfertig zwar (wie das meiste,
das ich in meinem Leben angefangen habe) – seitdem in der "elektronischen Schublade".
Der Gedanke, mich mit der Offenheit, die mir bei aller Komplexität des Vorhabens möglich ist,
darzustellen nicht nur als der, der ich heute bin, sondern auch als der, der ich einmal war, aus dem ich ein
anderer – ein Stück weit zumindest dank der Psychoanalysen – als in meiner Jugend geworden bin:
mit meiner Unsicherheit und Gehemmtheit während meiner Schulzeit, den Ängsten, obwohl ich, widerwillig
und faul, die Anforderungen der Schule fast "mit der linken Hand" erledigte, es dennoch nicht zu schaffen, so
wie meine ältere Schwester es einige Jahre zuvor nicht geschafft hatte und ohne Abitur von der Schule abgehen
musste; der eskapistisch, auf der Flucht vor der Schul-Realität, betriebenen Radio-Bastelei, dem Zustand
quälender Verliebtheit in M., die Mitschülerin, in den ein, zwei letzten Schuljahren vor dem
Abitur.
Das Leben, wie es wirklich war, glaubte ich aus der Literatur zu kennen, aus den Romanen, die ich (häufig
nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke) ver- schlang, glaubte ich das Schicksal herauszulesen, das "mir
blühte" (Mother's speech). Ich kann nicht mehr sagen, wie, bei welcher Lektüre der Clochard
in meiner Phantasie aufgetaucht ist. Er schien die logische Konsequenz meiner Abstiegs-Ahnungen und meiner
Befürchtung zu sein, dem "Ernst des Lebens" nicht gewachsen zu sein. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich
mich mit dieser Lebensphilosophie des Scheiterns sogar M. gegenüber gebrüstet habe. Später, bei der
Lektüre von Simone de Beauvoirs Autobiografie Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, wurde
ich durch eine darin geschilderte Begebenheit, wie sie in einem Clochard, den sie auf der Strasse traf, einen
ehemaligen Mitschüler wiedererkannte, an meine einstigen Clochard-Phantasien erin- nert. Allerdings fehlt mir
für das (scheinbar) stoische Clochard-Leben auf der Strasse und – in Paris –
unter Brücken, das wohl nur durch Rotwein-Konsum (oder den von Drogen) zu ertragen ist, eine Voraussetzung:
mir bekommt der Alkohol nicht gut; er löst, ähnlich wie das Nikotin, eine vegetative Reaktion, eine
Verengung der Blutgefässe sowie ein Absacken des Tonus, begleitet von Missempfindungen wie "Herzbeklem- men",
dazu Frösteln bei gleichzeitiger Hitze im Gesicht, bei mir aus.