Können Paradoxien krank machen, wie mein Analytiker einmal geäussert hat?

    Bei Picasso, dessen Charakter, wie die Ex-Lebensgefährtin F.Giraud in ihrer Autobiografie schreibt, von einer pathologischen Eifersucht und damit verbunden einem Kontrollzwang geprägt war, hat die Trennung dennoch nicht zu einem solchen extremen Gemisch paradoxer Gefühle geführt, dass sie eine ernsthafte psychische Krise, eine Erkrankung etwa, bei ihm ausgelöst hätte: Er hielt sich vermutlich schadlos, indem er sich, wie in dem gezeichneten Tagebuch bereits angedeutet, erneut manisch in sein künstlerisches Schaffen stürzte.

    Mir kommt die Erinnerung an einen Mitschüler in den Sinn, mit dem mich in der Studienzeit eine enge Beziehung verband; wir machten in den Sechziger Jahren, lange vor dem Touristenboom, gemeinsam eine Reise in die Türkei. Er war, von seiner Freundin, die ein Kind von ihm bekam, mehr oder weniger zur Ehe genötigt, in einer amour fou zu einer ebenfalls verheirateten Amerikanerin entbrannt, folgte ihr sogar in die USA, als sie dorthin zurückkehrte. Offenbar lebte er mit ihr den Traum von einem anderen Leben aus, das in einem völligen Gegensatz zu seinem aktuellen Leben stand, nicht damit vereinbar war: der Sicherheit, die es für ihn bedeutete mit der Bindung an Frau und Kind, die er keinesfalls aufgeben konnte. Die Paradoxie machte ihn krank.

    Im Gegensatz dazu Picasso: dieser hatte seine Kunst, die Malerei, mit der er sich für den erlittenen Verlust ent-schädigen konnte (dieser Vorgang entspricht wohl dem, was Freud mit seinem Begriff Sublimierung meinte). Mein Freund hingegen glitt in eine Krise ab, entwickelte leicht psychotisch-zwanghafte Ideen, mit irgendwelchen Verbrechen in Verbindung zu stehen, über die er in der Zeitung las, und verbrachte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik in stationärer Behandlung. Ich erinnere mich, wie ich ihn bei einem Besuch in der Klinik in einem Zustand geistiger Verwirrung erlebt habe. Es handelte sich um eine vorübergehende Krise; ich erfuhr später, dass er in ein ordentliches Berufsleben als Städtischer Angestellter eingetreten war.

    "Die Paradoxien machen Sie krank!" hatte Dr.A. einmal zu mir gesagt. Lege ich dieser Äusserung, die mit der Erinnerung an ihn verbunden ist, eine zu grosse Bedeutung bei? Was passiert mit mir, wenn ich, umgangssprachlich ausgedrückt, "in ein Loch falle"; in den Zustand der Entleerung, der Dekompensation, in dem die Kompen-sationen mir nicht zur Verfügung stehen, die "Ersatzbefriedigungen", auf die andere zurückgreifen, wie Essen, Trinken, Rauchen, oder was sich, vorzugsweise Männern, sonst noch als kompensatorische Aktivität anbietet: das Auto oder, im Internet-Zeitalter, das effektivste Mittel, um dem geistigen Leerlauf (dem horror vacui) zu entgehen, der Zeitvertreib mit Computerspielen, dem Streamen, dem Surfen usw. mit dem Smartphone?