Ich hatte bei dem Vorangegangenen die bekannte Erzählung Kafkas Vor dem Gesetz vor Augen, in der "ein Mann vom Lande" den Türhüter um Einlass in das Gesetz bittet. Nachdem er eine unbestimmte, scheinbar endlose Zeit – seine Lebenszeit – damit verbracht hat, vor dem Eingang zu warten, heisst es zum Schluss: "...dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn".

    Das Gesetz, das, wie sich im Schluss-Satz zeigt, kein allgemein gültiges, son- dern ein Gesetz nur für ihn ist, bestimmt ihn auf etwas zu warten – nämlich eingelassen zu werden –, das nach eben diesem Gesetz nicht eintreten kann. Die Erzählung stellt also ein in eine Parabel gekleidetes Paradox dar. Indem Kafka sie – die übrigens auch eine verklausulierte Erklärung seiner Unfähigkeit zur Ehe darstellt – seiner Verlobten Felice vorliest, sagt er ihr damit: das bin ich selbst, das ist die Conditio meiner Existenz, und so musst du mich annehmen, womit er die Paradoxie auf die Spitze treibt. Es ist festzuhalten, dass er es selbst ist, der sich – man denke an seine paradoxale Bindung an den Vater mit seinen Erwartungen, die er, K., enttäuschen muss, sowie an seine Heirats- versuche – unter dieses paradoxale Gesetz stellt, und indem er es als in Stein gemeisselt darstellt, gibt er insgeheim sich selbst die Absolution.

    Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen (Goethe, Faust).

    Dieser fast religiöse Erlösungs-Gedanke erklärt sich wohl als ein Versprechen in der Welt der Illusion, in der Goethe, zumindest in seiner Dichtung, gelebt hat. Das Paradox, durch eine in der menschlichen Psyche wirksamen Kraft – der Hoffnung, nach Freud das Vor-sich-Hinprojizieren des Narzissmus – an dieser Vorstellung, der Aussicht auf eine mögliche Erlösung festzuhalten, wobei die Negation, der Gedanke der Nicht-Einlösung immer gegenwärtig bleibt, wird von Goethe durch die Formulierung "können" (nicht "werden"!) scheinbar entkräftet. Was Kafka betrifft, dessen unerreichbares Idol Goethe übrigens war, so gab es für ihn nur eine fatale Erlösung, die wiederum ein Paradox war: sein früher Tod. In Suizidphantasien von ihm immer wieder beschworen, wurde er schliesslich Wirklichkeit, als die Tuberkulose seinem Leben im Alter von einundvierzig Jahren ein Ende setzte.

Anm.: Die Formulierung Vor-sich-Hinprojizieren des Narzissmus, die, wenn ich mich recht erinnere, von Freud in seiner Schrift Zur Einführung des Narzissmus und in zeitlicher Nähe (1914) zur der Analyse des Wolfsmannes, "F.s berühmtestem Patienten" (Die Geschichte einer infantilen Neurose), verwendet wurde, erinnert mich wieder an meine intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse, mit den Biografien, Briefen usw. Freud/Fliess, Freud/ Jung, W.Reich u.a.) sowie insbesondere auch mit dem Wolfsmann, dessen späteres Schicksal von zwei Autorinnen (M.Gardiner und K.Obholzer) öffentlich gemacht worden ist. Letztere, eine Journalistin aus Wien, machte ihn dort, wo er nach seiner Emigration aus Russland bis zu seinem Tod lebte, ausfindig und enthüllte seine Identität: Sergej P. Von besonderem Interesse waren für mich jedoch seine eigenen autobiografischen Aufzeichnungen (ich hatte damals Teile davon auf Band gesprochen und später digitalisiert abgespeichert), woran sich schon seit längerem der Gedanke knüpfte, selbst ein ähnliches Projekt zu realisieren, meine Erinnerungen an die Analysen sowie an die Zeit danach aufzuschreiben.