Das Leben, man schreibt es, oder man lebt es. Ich habe es
geschrieben.
Zitat, angeblich von Luigi Pirandello
Schreiben anstatt zu leben. Das traf nicht für mein ganzes Leben zu; erst in einer bestimmten Lebensphase, als ich nach der Trennung von einer Partnerin, der Frau mit dem Vogelbauer, in eine resignative Leere zu verfallen drohte, die ich durch Schreiben kompensatorisch auszufüllen suchte. Ich nenne diese Ex-Freundin so, in Erinnerung an eines unserer letzten Gespräche vor unserer endgültigen Trennung, in dem sie mir die Unmöglichkeit eröffnete, dauerhaft eine Beziehung mit mir eingehen zu können: sie komme sich wie in einem Käfig gefangen vor. Um ihr Gefühl des Eingesperrtseins anschaulich zu machen, wies sie auf ein irgendwie fernöstlich-exotisch anmutendes hölzernes Vogelbauer in ihrem Regal, dekoriert mit der Attrappe eines Vogelpärchens mit buntem Gefieder, davon der eine im Käfig und der andere, augenscheinlich das Männchen, in dem ich mich wohl wiedererkennen sollte, gewissermassen ausgesperrt aussen an den Gitterstäben.
Diese Ex-Freundin K. brachte sich neulich, über zwanzig Jahre nach Beendi- gung der Beziehung, mit einem Brief wieder in Erinnerung. Nach einem ersten Gedanken, was sie wohl von mir wollen mochte, entschied ich mich dafür, es nicht wissen zu wollen, und liess den Brief ungeöffnet. Die Gefahr, mein mit der Zeit gewonnenes, wenn auch labiles, nur mühsam aufrecht erhaltenes seelisches Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen, erschien mir zu gross.
Schreiben war für mich ein Existieren auf Sparflamme, es ermöglichte ein Mobilisieren von Restenergien, die mir in meinem Zustand eines reduzierten Lebensantriebs noch blieben, um eine geistige Bewegung, eine Reflexion in Gang zu halten (mit dieser Feststellung beschreibe ich übrigens auch meine derzeitige Tätigkeit, die sich darin erschöpft, mein Gedächtnis in Gang zu bringen und undeutlich gewordene Erinnerungen wieder hervorzuholen). Schreiben, jedoch nicht auf das Ziel hin, Schriftsteller zu sein bzw. mich irgendwann zu einem solchen zu "mausern". Ich legte mir Gründe zurecht, die dagegen sprachen und aufgrund derer ich mich davon zurück- hielt, eine solche Perspektive zu verfolgen. Tatsächlich fiel es mir nicht allzu schwer, mich von diesen Vorstellungen zu trennen, denn ich hatte wohl auch die Einsicht, dass ich nicht genug Talent auf der einen und auch nicht die Hartnäckigkeit auf der anderen Seite besass, um gewissermassen ein Body-building, oder besser: Brain-building des Schreibens zu betreiben, mit dem Resultat, dass ich daraus schliesslich als Romanautor, als Essayist oder als ein sonstiger Literaturschaffender hervorgehen würde. Was den Zusammenhang von Leben und Schreiben betrifft, so war ich klarsichtig genug, um zu sehen, dass man, wenn man alles, was um einen herum passiert, mit dem Blick des Schriftstellers betrachtet und auf seine Verwendbarkeit hin, als potentiellen Stoff für ein literarisches Werk, einen Roman oder eine Erzählung, prüft, damit das unmittelbare, spontane Erleben zerstört und sich gleichzeitig von seiner Umwelt distanziert. Mein fehlendes Talent hat mich also mit davor bewahrt, mit der Ambition, einen Schriftsteller aus mir zu machen, diese Richtung zu verfolgen, die ich bis heute für einen falschen Weg halte.