Warum besuche ich sie nicht einfach mal? Ja warum nicht? Eine naheliegende Antwort: ich scheue die Konfrontation mit ihrer mir fremden Lebensweise – nicht meine Welt!? – , fürchte aus Befangenheit und Ablehnung mich bei ihnen, in ihrer stilvoll eingerichteten Wohnung, nicht wohlzufühlen – nur aus Ressentiment bzw. Neid? Sie beide wie ich inzwischen über siebzig, leben, so ist anzunehmen, gut mit ihren Pensionen, bei guter Gesundheit, sportlich (sie waren – sind? – leidenschaftliche Surfer), gehen viel auf Reisen (ich zwar auch, nur in bescheidenerem Rahmen und mit einer vermutlich sehr verschiedenen Philosophie: mit Rucksack und Zelt). Und, wie zu vermuten, würde das Gespräch bald bei Familiärem landen, bei ihrem inzwischen erwachsenen Sohn und den möglicherweise bereits vorhandenen Enkelkindern.

    Es muss etwa dreissig Jahre her sein, dass sie mich einmal völlig überraschend ohne Vorankündigung in meiner damaligen Hinterhof-Wohnung, in der ich ziemlich isoliert und mit einer ziemlich ungewissen Zukunft lebte, besuchte. Meine Reaktion war Verlegenheit: ich fühlte mich durch diesen Besuch, für den es keinen erkennbaren Anlass gab, ein wenig überfallen und war ihr gegenüber, die zwar die Freundin meines Freundes war, zu der ich aber kein besonders vertrautes Verhältnis hatte und deren Motive für mich undurchsichtig waren, verständlicherweise zurückhaltend, ja befangen. Da ein Hintergedanke wie der eines Annäherungsversuchs auszuschliessen war, empfand ich diesen reinen Freundschaftsbesuch eher als befremdlich. Sie war wohl einfach nur neugierig und wollte sehen, wie ich lebte.

    Bei einer anderen Gelegenheit einige Jahre später, als ich nach der Geburt ihres Sohnes bei ihnen zu Besuch war, wollte sie unbedingt, dass ich das Baby einmal hielte, und legte es mir in den Arm.

    Um auf meine Verlegenheit zurückzukommen, mit der ich auf den Besuch R.s reagierte: auch sie war wohl Ausdruck der paradoxen Undefiniertheit, einer Art von Schwebezustand – oder sollte man von Ambivalenz sprechen –, der unser Verhältnis bestimmte, so wie sie in Freundschaftsbeziehungen latent vorhanden ist, in denen man, damit die Freundschaft Bestand hat und nicht durch Unverträglichkeit(en) belastet und als Folge durch eine Entfremdung gefährdet wird, den Partner bzw. die Partnerin des anderen zumindest akzeptieren muss. Konkret befand ich mich R. gegenüber in einer Unsicherheit, ob ich sie nur dem Freund zuliebe akzeptierte, anders herum, ob ich sie auch mögen würde bzw. gemocht hätte, wenn sie nicht seine Freundin gewesen wäre.

    Eine weitere recht bemerkenswerte Begebenheit: R. hatte aus dem Nachlass ihres Vaters, zu dem sie offenbar ein besonders enges Verhältnis gehabt hatte – bei gemeinsamen Camping-Urlauben in ihrer Jugend wurden sie bisweilen für ein Paar gehalten –, eine Abhandlung über germanische Mythologien erhalten. Sie wollte meine Meinung darüber hören und übergab mir dieses als Broschüre gebundene Manuskript, damit ich es mir ansehe. Ich zog mich dadurch aus der Affäre, dass ich es ihr bei Gelegenheit zurückgab und dabei vorsichtig äusserte, dass ich kein Experte sei, um den Wert dieser Arbeit beurteilen zu können, dazu müsste man schon vom Fach sein.
  [Vielleicht hoffte sie insgeheim, dass ich vergessen würde, es ihr zurückzugeben, wodurch sie, unsicher, wie sie damit umgehen sollte, von dieser Bürde der Verpflichtung ihrem Vater gegenüber befreit gewesen wäre.]