Schliesslich – weitere "abgelebte Zeit" (Goethe) – die Google-Suche nach L. mit einem überraschenden
Ergebnis: nicht nur – dies die ungeahnten, vor ein paar Jahr- zehnten noch unvorstellbaren Möglichkeiten, die
sich durch das Internet eröffnen –, dass ich problemlos anhand ihres Mädchennamens fündig wurde und
auf mehrere sie betreffende Einträge stiess: Sie führt einen Doppelnamen, hat ihren polnischen Namen an den
italienisch klingenden ihres Ehemannes angehängt.
Mehr noch: Auf der Seite einer Suche-Ehemalige-Plattform fand ich zudem ein Foto von ihr,
das sie dort eingestellt hat. Nun weiss ich also, wie sie heute, auch schon Mitte sechzig, ungefähr aussieht
(das Foto kann natürlich schon etwas älter sein). Allerdings keine Adresse oder Telefonnummer, kein
Hinweis auf ihren Wohnort, nur anhand einer sozialen Einrichtung, bei der sie sich offensichtlich als Kassenwart
engagiert, die Vermutung, dass sie in Lille oder in der Region leben muss. Offensichtlich hat sie Kinder und
Enkel; anscheinend ist sie Witwe, denn aus einer im Internet veröffentlichten Todesanzeige schliesse ich,
dass es sich um ihren verstorbenen Ehemann handelt.
Ihre aktuelle Adresse liesse sich möglicherweise über die erwähnte soziale Einrichtung, ein Treffpunkt
für Ältere, Senioren im Ruhestand, von der eine E-mail- Adresse der Universität Lille
angegeben ist, ausfindig machen: dorthin könnte ich eine E-mail senden und darum bitten, meine Adresse an sie
weiterzugeben. Entsprechende Formulierungen wälzte ich in meinem Kopf herum, etwa diese: Madame, Monsieur,
veuillez rendre mon e-mail-adresse à Mme.N.N., pour qu'elle puisse me contacter, si elle veut.
Tagelang stand ich unter dem Eindruck des aufwühlenden Gedankens, dass es eine reale Möglichkeit zu
geben scheint, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, vielleicht sogar sie wiederzusehen. Neulich nachts ging es mir
durch den Kopf: Flaubert sieht seine Mme. Schlesinger (die Mme. Arnoux in der
Éducation Sentimentale) wieder. Was für Hirngespinste! Deutet diese assoziative
Verknüpfung mit Flaubert und seinem Roman nicht darauf hin, dass der Gedanke an ein solches Wiedersehen eher
in den Bereich der Literatur gehört als in das Wahre Leben? Und ausserdem war L. sicherlich nicht meine
Mme.Schlesinger.
Kaum war in den letzten Tagen der vegetative Erstarrungs-Zustand mit den mir vertrauten Begleiterscheinungen
– inneres Schrumpfen infolge eines herabgesetzten Tonus, mit Kurzatmigkeit, Bronchialschleim-Auswurf, bohrendem
Kopfschmerz und verhaltenem Kälte-Zittern ohne ein subjektives Kältegefühl –, der mich nach der
zuletzt beschriebenen Phase der Aufgewühltheit für einige Wochen im Griff hatte, etwas abgeschwächt,
da ging das Gedanken-Wälzen in meinem Gehirn wieder los: wer bin ich, wenn ich mich in dieser Umklammerung,
dieser psycho-motorischen Einschnürung, mit meiner eingeschränkten Handlungsfähigkeit auf ein minimales
Rest-Sein reduziert erlebe; bin das noch ich selber?