Ich war mir also, eigentlich schon seit meiner Kindheit, dessen bewusst, verglichen mit Anderen mit etwas ausgestattet zu sein, einer Gabe, die mich in die Lage versetzte, die Aufmerksamkeit Erwachsener wie z.B. der Lehrer auf mich zu ziehen und damit im Konkurrenzkampf bevorzugt zu sein – mit sechs, noch bevor ich in die Schule kam, konnte ich aus der Zeitung vorlesen, was ein anerkennendes und gleichzeitig bedenklich klingendes "er kann schon lesen" meiner Mutter hervorrief, und aus meiner Schulzeit ist mir u.a. in Erinnerung, welche Aufmerksamkeit ich vom Musiklehrer wegen meiner Fähigkeit bekam, Töne, die er am Klavier anschlug, zu identifizieren –, dass es aber nicht ratsam war, sich allzu sehr damit hervorzutun: ein Paradox, nicht unbefangen und ohne gross darüber nachzudenken von dem Gebrauch machen zu können, womit man von der Natur (früher hiess es "vom Schöpfer", heute liegt es "an den Genen") ausgestattet wurde.
Das Buch Das Drama des begabten Kindes der Psychoanalytikerin Alice Miller hat mich wegen der Thematik für eine Weile beschäftigt, die darin dargelegten Thesen haben mich aber letztlich wohl nicht wirklich überzeugt. [Was waren ihre Thesen?!]
Dann etwa in der Pubertät begann ich zum Teil bewusst gegen ein Streber- Image (der Begriff Image
gehörte damals wohl noch nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch) zu arbeiten; ich vernachlässigte die
Hausaufgaben und kam unvorbereitet zum Unterricht, hatte aufgetragene Texte nicht gelesen und Gedichte nicht auswendig
gelernt, wodurch ich des öfteren, als es mich traf, das Aufgegebene vorzutragen, negativ auffiel, mich blamierte und
Schadenfreude erntete. Es war ein schmaler psychischer Grat, auf dem ich mich bewegte: auf der einen Seite wurden die aus meiner
pessimis- tischen Grundstimmung resultierenden Versagensängste – die Angst zu scheitern, das Abitur
nicht zu schaffen – noch verstärkt; auf der anderen scheint halb-bewusst bei mir eine Einstellung
grundegelegen zu haben, ein Hochmut, dass ich die Schule auf Grund meiner Intelligenz auch "mit links" schaffen
könnte.
Angesichts dieser komplexbeladenen Vorgeschichte, meiner Conditio, die mein
Identitätsbewusstsein beherrscht, drängt es sich mir, während ich diese Erinnerungen wieder
abrufe, unablässig auf: wieviel von dem, der ich damals war, ist noch in mir, wieviel von dem will ich
überhaupt als zu mir gehörig anerkennen: wie weit ist der Schüchterne, Unerfahrene von damals
zur Zeit des ersten Verliebt-Seins noch Teil von mir? Wie weit kann ich mich in dem, der gegen Ende der Schulzeit
und über das Abitur hinaus in M., die Mitschülerin, unsäglich verliebt war, noch wiedererkennen,
wieviel von dem bin ich noch? Der Gedanke an sie tauchte, als ich mich der Wieder- sehensphantasie mit L., meiner
Nicht-Mme.Schlesinger, hingegeben habe, unweigerlich ebenfalls auf. Kann ich mir überhaupt
noch vorstellen, sie, d.h. M., wiederzusehen, die Frau, die für die erste und daher tiefste, lange
nachwirkende Enttäuschung steht, auch deshalb, weil diese Verliebtheit infolge unserer Unerfahrenheit, unseren
Hemmungen, unsichtbare Grenzen zu überschreiten, wenn wir uns näherkamen, so substanzlos blieb?