Im Jahr darauf, als wir in derselben Universitätsstadt mit einem Studium ange- fangen hatten: gemeinsames Badengehen
in einem bei den Städtern beliebten Gewässer in der Nähe, einmal, vielleicht im Anschluss daran, zusammen in
ihrem Zimmer, in dem sie zur Untermiete (Herrenbesuch bis zehn Uhr abends!) wohnte, beherrscht von einem Gefühl des
Überwacht- und Kontrolliertwerdens; unsicher, was erlaubt war, mit dem Resultat, dass gar nichts passierte, nicht das,
was wir uns beide herbeisehnten: Berüh- rungen, Küsse; die Hürden waren zu hoch, das Terrain war mit Verboten
umgeben.
In den entscheidenden Momenten war der Ablauf vorhersehbar: was sich, in der qualvollen unerfüllten
Erwartung, dass es bei einem Zusammensein passieren müsste, wie von selbst auf natürliche
Weise ergeben sollte (was ist in der Beziehung zwischen zwei gleichermassen Unerfahrenen und Gehemmten, beide
aus einem prüden, sexual- feindlichen katholischen Milieu kommend, natürlich!?) stellte sich jedoch nicht
ein: der Gedanke, dass es jetzt an mir ist, dass sie darauf wartet, ob ich mich mehr trauen würde, lähmt
mich zusätzlich; ich wage es gerade noch, sie leicht zu berühren und flüchtig mit einem Kuss ihren
Mund zu streifen. Mein Unvermögen aufgrund fehlender Phantasie (Dr.A. verwendete später den Ausdruck vorphantasieren) lässt mich wie betäubt und leer im Kopf in Passivität verfallen. Sie
ihrerseits, als ihr klar war, dass sie mit mir nicht die ersten Erfahrung auf dem Gebiet – wie weit auch
immer damals Anfang der 60er Jahre, also lange vor Einführung der Pille, gefahrlos gegangen werden konnte
– machen würde, wandte sich Kommilitonen älterer Jahrgänge zu.
Nachdem sich durch meinen Weggang nach B. unsere Wege getrennt hatten, habe ich sie etwa zwei Jahre danach
noch einmal bei einem geselligen Zusammensein mit "Ehemaligen" wiedergesehen; danach meine ich nie wieder etwas
von ihr gehört zu haben. Die folgenden ein oder zwei Jahren durchlebte ich mit einem depressiven Grund-
gefühl, verursacht durch die Leere, die von ihr, d.h. genauer gesagt: durch den Verlust des narzisstisch
besetzten Objekts, in mir hinterlassen wurde. Was meine Hemmungen betraf, so gelang es mir erst mit Hilfe einer
Psychoanalyse einige Jahre später, diese so weit zu überwinden, dass ich Beziehungen zu Frauen aufnehmen
konnte.
Diese Abschnitte meiner Vergangenheit (abgeschnitten: nur so können sie einen Bezug zu
meinem gegenwärtigen Leben haben) – ich kann sie schreibend hervorholen, aber nur unter der Bedingung
einer Trennung, der Wahrung des Bruchs, aufgrund dessen sie nicht Bestandteil dessen sein können, was ich heute
bin. Diese Diskontinuität – hier kann ich uneingeschränkt von einem Paradox sprechen: ich kann mir
mein Vergangen- heits-Ich nur aneignen, indem ich mich von ihm als einem Nicht-mehr-Ich distanziere – bestimmt
mein Leben; sie wird auch durch die schreibende Wieder- aufbereitung nicht geglättet, durch sie kann das mir
in der Vergangenheit Widerfahrene nicht bruchlos zu meiner Vergangenheit werden, die ich als zu
mir gehörig annehme; dieses Unternehmen ist vergleichbar mit der Besichtigung eines antiken Ruinenfeldes: da
ist kein Leben, kein Bezug zur Gegenwart mehr (zumindest möchte ich mich dessen vergewissern, dass es so ist),
sondern nur Sand, Steine, auf denen sich Eidechsen sonnen.