Lascia le donne e studia la matemática!   (Rousseau in den Confessions)


    M. trat zum erstenmal zu Beginn der Oberstufe – ich war sechzehn – in mein Leben, als eine Gruppe auswärtiger Schüler, zu der sie auch gehörte, in unsere Klasse integriert wurde. Bis dahin war ich vielleicht ein- oder zweimal in ein Mädchen unserer Klasse verliebt gewesen – eines war R., Röschen genannt; an sie, an ihr fröhliches Lächeln, ihre Lustigkeit, erinnere ich mich vage. Weitere Erinnerungen, "ich meine mich zu erinnern" vorangestellt; d.h. vielleicht ist es wirklichlich so gewesen: Aus irgendeinem Anlass habe ich ihr einmal eine Rose überreicht, und bei dieser oder einer anderen Gelegenheit habe ich mich nach ihr umgedreht (sie sass in der Bank hinter mir) und auf eine eher kindlich-unschuldige Weise mit ihr geflirtet. Sie war dann aber irgendwann nicht mehr da, offenbar sitzengeblieben; jedenfalls muss sie einem späteren Abiturjahrgang angehört haben. Sie tauchte kürzlich in meiner Erinnerung wieder auf, als ich von ihr, recht unerwartet, im Internet einen Eintrag in der Rubrik "Suche Ehemalige" unserer alten Schule gefunden habe; ich hätte also Kontakt mit ihr aufnehmen können, fraglich nur, ob sie sich noch an mich erinnert hätte. Sie war, wer hätte das gedacht, Ärztin geworden.

    Es waren verschiedene Aktivitäten, mit denen ich in den beiden letzten Schul- jahren versuchte, M. auf mich aufmerksam zu machen. Bei einer Klasssenfahrt an den Plöner See machte ich Aufnahmen (damals in schwarz-weiss!) von den Klassen- kameraden, dabei besonders eifrig von den Schönen der Klasse. Ich stellte in einer Dunkelkammer Abzüge her, von einigen ausgewählten Mitschülerinnen, von M., ihrer Freundin, einer etwas zurückhaltenden Fabrikantentochter (in deren "mittelständischem" Betrieb, in dem VW-Bullys zu Camping-Wagen ausgebaut wurden, die sich vor allem in den USA wie warme Semmeln verkauften, habe ich einmal in den Ferien gejobbt) sowie von noch einigen weiteren machte ich Ausschnittvergrösserungen, Porträtfotos im Postkarten-Format.

    In den letzten Sommerferien vor dem Abitur (1960) unternahm ich gemeinsam mit dem Schulfreund W. eine Radtour das Rhônetal hinunter bis zum Mittelmeer, ein Abenteuer, mit dem wir natürlich nach unserer Rückkehr angeben konnten, und ich meine, auch damit bereits Eindruck auf M. gemacht zu haben. Ein anderes Prestige- unternehmen war die von W. und mir betriebene Radiobastelei: wir hatten uns jeder ein kleines Transistorradio gebaut, mit einem weissen Bakelit-Gehäuse und wenig grösser als das Postkarten-Format (in meines passte gerade ein Lautsprecher von 10cm Durchmesser). Die Vorführung, bei der sich die halbe Klasse um uns scharte, galt vor allem auch M., und ich registrierte mit Genugtuung ihren staunenden Blick.

      Und schliesslich das Kapitel Kafka

    Unsere Deutsch-Lehrerin gab uns mit dem Urteil als Hausaufgabe eine harte Nuss zu knacken und löste damit Diskussionen über die verwirrende Logik der Geschichte aus. Das Kafkaeske übte auf mich ebenso wie auf einige der Klassen- kameraden, so auch auf M., einen Reiz aus. Ich war an einen Band mit Parodien auf verschiedene Schriftsteller, darunter auch Kafka, gelangt. Zur allgemeinen Unterhaltung las ich in einer Pause daraus vor, aber für mich war es so, als ob nur sie, M., meine Zuhörerin wäre, denn sie wollte ich damit beeindrucken. Später erfuhr ich von ihr, dass sie, noch vor mir, Das Schloss las.