Des weiteren: wie er als Student in jugendlichem Leichtsinn mehr als aus Überzeugung sich zu Flugblatt-Aktionen
einer kommunistischen Untergrund-Gruppe verleiten liess und er, als sie aufflog, in die Fänge der Gestapo geriet
und nur mit Mühe durch Beziehungen frei kam, wodurch er Schlimmerem fast wie durch ein Wunder ent- ging. Dann seine
Erfahrungen im Krieg: er war in den letzten Kriegstagen zu den Alliierten übergelaufen, nachdem sein bester Freund wegen
"unerlaubten Entfernens von der Truppe" als Deserteur erschossen worden war.
Zweifellos sah ich in einigem von dem, was ihm widerfahren war, Parallelen zu meiner eigenen Erfahrungen, beispielsweise
zu meiner Gefängnis-Zeit bei der Stasi, wobei mir klar war, dass die Stasi-Methoden, mit denen ich Bekanntschaft gemacht
hatte, nicht mit denen der Gestapo zu vergleichen waren. Sicherlich weckte es auch wieder düstere Überlegungen, die
sich bei der Lektüre von Literatur, die vom Krieg handelte, beispielsweise von H.Böll, einstellten,
Befürchtungen, was mir in der Nazi-Zeit und dann im Krieg möglicherweise widerfahren wäre: das Schlimmste,
nämlich aufzufallen, zu einer Zielscheibe zu werden, so wie ich es im kleinen an der Schule bereits
erlebt hatte. War ich nicht aufgrund meiner psycho-vegetativ-somatischen Auffälligkeit ein gegebenes Opfer?
Andererseits: war das, was mir am Kriegsende widerfahren ist, nicht eine andere Art von Kriegserfahrung (im Alter von
etwa zweieinhalb Jahren sei ich sogar von einem russischen Tiefflieger beschossen worden, wie meine Mutter berichtete)? Denn
wie einschneidend und für meine spätere Entwicklung prägend waren für mich, den Dreijährigen, diese
Erfahrungen von Flucht und anschliessend verbrachter Zeit in einem Flüchtlingslager in Oesterreich, wo wir, abgesehen
davon, dass es vermutlich wenig zu essen gab, vor allem unter der Anfang 1945 herrschenden Kälte gelitten haben
müssen? Hinzu kam eine weitere Gemeinsamkeit: er hatte sich, wie aus seinen autobiografischen Mitteilungen hervorging,
ebenfalls einer langen Psychoanalyse unterzogen.
Was sagen solche selektiven Erinnerungen über mich aus? Die aufgeführten Episoden machen deutlich,
dass eine Affinität zu dem Erinnerten vorhanden sein muss, etwas, in dem ich einen Aspekt meiner eigenen Geschichte
wiedererkenne und womit ich mich teilweise identifiziere. Was war beispielsweise der besondere Berührungs- punkt
im Fall des Schicksals der Tochter der Elisabeth Langgässer, die möglicherweise durch entschlosseneres
Handeln der Mutter rechtzeitig hätte in Sicherheit gebracht werden können?