In diesen geschilderten Komplexen scheinen sich verschiedene Erlebnisebenen zu vermischen: die eine Ebene ist
die meiner intensiven Beschäftigung mit der Zeit- geschichte, insbesondere mit dem Nationalsozialismus. Dabei
spielten Phantasien über Gestapo-Folterkeller sowie über KZ-Entbehrungen (in die zweifellos, mehr als mir
heute noch lebendig ist, meine eigenen Haft-Erfahrungen in einem Stasi-Gefängnis, die Erinnerungen an die
Gefühle von Ausgeliefertsein und Erniedrigung, mit hineinflossen) eine besondere Rolle. Wenn ich darüber
las, dass sich die Häftlinge in zwei Kategorien einteilen liessen, die einen mit einem starken Durchhaltewillen,
sowie die anderen, die pessimistischen, die sich aufgaben und die dann häufig nicht überlebten, sich
beispiels- weise das Leben nahmen, indem sie sich in den Elektrozaun stürzten, dann stellte sich mir
unweigerlich die Frage, zu welcher Kategorie ich wohl gehört hätte.
Berichte von der Kälte, der die Häftlinge ausgesetzt waren, gegen die sie nicht ausreichend
geschützt waren – wenn sie in Holzschuhen und in ihrer dünnen Häftlings- kleidung zur Arbeit
getrieben wurden, versuchten sich einige gegen die Kälte zu schüt- zen, indem sie sich Papier (u.a.
Zementsäcke, wenn ich mich recht erinnere) unter die Jacken stopften – gingen mir offenbar wegen meiner
eigenen schwachen Widerstands- kraft gegenüber Kälte besonders nahe, und ich befürchtete in einer
vergleichbaren Situation eher zu denen zu gehören, die resignierten. Spiegelte sich in derartigen pessimistischen
Gedanken nicht eine Erfahrung von Kälte und Hunger wider, die ich am Kriegsende 1945-46 im Alter von drei Jahren,
in der Zeit im Flüchtlingslager, gemacht hatte?
Von letzterer Erfahrung, an die ich keinerlei Erinnerung habe (allerdings scheint der Begriff
Frostbeule, der vor einiger Zeit unvermittelt in meinen Gedanken wieder auftauchte – "Das sind Frostbeulen"
– auf sie hinzuweisen) führt meine Überlegung zurück zu dem oben angesprochenen Problem-Komplex:
der Vorwürfe an die Adresse der Mutter. Der Mutter wegen dem, was wir "durchmachen" mussten,
einen Vorwurf zu machen, dass sie uns – unter den gegebenen Bedingungen der kalten Winter Anfang 1945 und 45-46,
in denen wir mit unzureichender Winterkleidung nur schlecht gegen die Kälte gewappnet waren (hier sehe ich einen
Zusammenhang mit meiner Anfälligkeit für Erkältungen, Bronchitis und Tonusverlust) – davor nicht
ausreichend schützen konnte, war logischerweise abwegig: wir alle, die Mutter ebenso wie wir Kinder, waren dem
ja gleichermassen ausgesetzt, und ich glaube, als blosse Assoziation zwar, ein "hör' auf zu jammern, es geht uns
allen so" in mir nachklingen zu hören. Allerdings bleibt es für mich bestehen, dass sie in einem versagt hat:
Ihrer komplexen Persönlichkeit ist es zuzuschreiben – ich schreibe es einem charakterlichen
Defizit zu –, dass sie nicht imstande war, Zuversicht zu vermitteln und mich so gegen die Resignation zu
immunisieren. [Dr.A. sprach, wenn ich mich recht erinnere, einmal von frühkindlicher Resignation,
die aber möglicherweise auf eine noch frühere Phase zurückgeht]. Vielmehr schien sich ihr Bemühen,
uns Kinder in der schwierigen Zeit "durchzubringen", verbissen auf die rein konkretistischen Massnahmen wie den Kampf
gegen Läuse, das Instandsetzen und Sauberhalten unserer Kleidung zu beschränken – und, nicht zu
vergessen, uns das Beten beizubringen –, wodurch sie glaubte, ihrer Mutter-Rolle gottgefällig zu
genügen.