Alte Brüche: ihre Wiederkehr und ein Versuch, sie zu erfassen


    Mit der Beschreibung der eindringlichen bildlichen Vorstellung, die ich mir vom Schicksal der KZ-Häftlinge machte, habe ich im Vorangehenden meine Empfind- samkeit, mit der ich mich in die Leiden Anderer hineinversetzte bis hin zu einer letztlich zwanghaften Identifizierung mit ihnen, deutlich zu machen versucht. Eine andere, ganz und gar unkonkrete, abstrakte Form von übersteigerter Empfinsamkeit trat in meiner Beziehung zur Musik zutage: einem Ausgeliefertsein beim Hören bestimmter Musik- stücke, das sich in einer unwillkürlichen Reaktion äussert, einer Wallung in der Brust und im Hals, wobei mir Tränen in die Augen steigen. Nachdem sich dieses überstei- gerte, sicherlich kompensatorische Musik-Erleben – Kompensation für etwas Anderes, nicht Vorhandenes bzw. nicht Eintretendes – über einen längeren Zeitraum in den Hintergrund getreten war – es erscheint mir plausibel, dies für die Zeit meiner Tätigkeit am K.-Institut, die von meinen ehrgeizigen Ambitionen, den Anstrengungen, die ich in sie investierte, geprägt war, anzunehmen –, bemerke ich, dass mit fortschreitendem Alter diese beschriebene Ergriffenheits-Reaktion wieder verstärkt auftritt.

    In einer nun dreissig oder vierzig Jahre zurückliegenden Phase besonders intensiven Musik-Hörens waren es beispielsweise bestimmte Stücke von Beethoven, bestimmte Sätze aus seinen Streichquartetten, den Rasumowsky-Quartetten sowie dem späten Quartett Op.131, bei denen mir Tränen in die Augen treten konnten. Ebenso bei der Musik von Bach, wobei ich nicht mehr mit Bestimmtheit angeben kann, welche Werke von ihm ich damals schon kannte – die Violinkonzerte sowie einige der Cello- Suiten, auch zumindest eine Goldberg-Variation, die von Ingmar Bergmann in dem Film Das Schweigen verwendet wurde – und die Reaktionen der beschriebenen Art in mir hervorrufen konnten.

   Eine Erinnerung hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt: Ich war mit meiner damaligen Freundin – es dürfte fast vierzig Jahre her sein – zu einem Kurzurlaub in den Harz gefahren. Im Hotelzimmer legte ich eine Kassette in den mitgebrachten Kassettenrecorder ein und spielte eines der von mir so geliebten Musikstücke ab, bei dem ich feuchte Augen bekam. Die Freundin bemerkte das, und etwas verwundert betupfte sie, ohne ein Wort zu sagen, mein Auge mit dem Finger. Es war mir etwas unangenehm, dass sich auf diese Weise eine Seite verriet, die in ihren Augen doch befremdlich, unmännlich, zumindest als zu "zartbesaitet" erscheinen könnte; eine Eigenart, die ich eigentlich lieber vor ihr verborgen hätte.