Komme ich noch einmal auf die wenn auch vage Verbindung zwischen der Mutter und der Musik, vorgegeben durch das Singen unter dem Weihnachtsbaum am Heiligabend, zurück. Die spätere Realität war die, dass ich sowohl die Mutter vor vierzig Jahren – sie ist jetzt schon seit über zehn Jahren tot – endgültig aus meinem Leben ausgeschlossen, d.h. den Kontakt mit ihr abgebrochen habe, als auch entschieden habe, dass ich mit Weihnachten (ebenso wie mit der Religion, von der ich mich bereits viele Jahre zuvor, noch vor Ende der Schulzeit, abgewandt hatte) "nichts am Hut" habe, was bedeutet, dass ich Weihnachtsfeiern seit vielen Jahren aus dem Weg gehe; eine Vermeidungsstrategie, die sicherlich einen pathologischen Anteil hat.
Eine bissige Satire von H.Böll über das jährliche Begehen des Heiligabends im Kreis der Familie, in der er die einzelnen Familienmitglieder Schauspieler engagieren lässt, die sie nach und nach einen nach dem anderen bei dem Beisammensein vertreten, sprach mir wegen seiner Desillusierungs-Logik aus der Seele, in einer Lebensphase, von der ich bereits gesprochen habe, in der mich das Gegensatzpaar Illusion/Desillusionierung stark beschäftigte, worin sich zweifellos mein psychischer Zustand in der Zeit um das Abitur herum widerspiegelte.
Eine jährliche "Wiederkehr des Immergleichen", die der in der Böll'schen Satire entspricht, resultiert
aus meiner Ablehnung von allem, was mit Weihnachten zusammen- hängt; es ist die jährliche Absage, die
Nicht-Teilnahme an den verschiedenen Veranstal- tungen und Angeboten: Weihnachtsessen mit Weihnachtslieder-Singen,
Kaffee und Kuchen bei Kerzenschein, eine Weihnachtsfeier mit Kaltem Buffet. Auf Anfragen an mich, ob ich auch
käme (wie vor den letzten Weihnachten in der Begegnungsstätte) antworte ich folgerichtig ablehnend, gebe
mich als Weihnachts-Muffel zu erkennen und stosse damit wie letztens bei D. wenn nicht auf
Verständnislosigkeit, so doch auf Befremden. Mein konsequentes Mich-Ausschliessen trägt zweifellos
ein Stück dazu bei, dass ich in eine Aussenseiterrolle gerate bzw. dass meine Rolle als Aussenseiter, in
der ich mich seit jeher sehe, noch verfestigt wird.
Musik in der Familie, das waren in den frühen Fünfziger Jahren, als es nach dem Krieg bei uns zu Hause
zum erstenmal ein Radio, einen alten Volksempfänger, gab, vor allem Unterhaltungssendungen mit den Schlagern
jener Zeit, die mit Mandolinen- klängen Capri, Sorrent oder Napoli besangen, sowie Operettenmelodien. Dieses
Bei- sammensein im Wohnzimmer, häufig bei Kaffee und Kuchen, den die Mutter gebacken hatte, und dem
Anhören der Sonntagnachmittags-Wunschmusiksendung des NWDR liess eine zwiespältige Atmosphäre der
Verschmelzung, im Rückblick auch mit den im Radio gespielten Melodien entstehen (so werde ich bei dem Vorspiel
zu La Traviata immer an einen 50er-Jahre-Schlager erinnert, der in einem Tango-ähnlichen
Rhythmus das Sehnsuchtsland Italien besang). Spätestens ab etwa sechzehn-siebzehn entfloh ich diesem
sonntäglichen Klumpatsch (ein von Dr.A. verwendeter Ausdruck) zu meinem Schul- und
Radiobastel-Freund, um den Rest des Nachmittags bei ihm zu verbringen.