Bei dem Thema Mutter und Weihnachten muss ich noch tiefer in der Vergangenheit graben; muss in die
früheste Kindheit zurückgehen. Da ich an diesen Lebensabschnitt keine Erinnerung habe, kann ich mir nur
indirekt einen Zugang zu ihm verschaffen und mir mit der Vorstellung das nicht mehr Vorhandene erschliessen.
Ausgangspunkt der Rekonstruktion einer Episode aus der frühesten Kindheit ist eine Fotografie (vermutlich das
erste Foto, das von mir gemacht wurde) – d.h. aus der Erinnerung; sie ist nämlich nicht mehr vorhanden,
ich habe sie zusammen mit anderen Erinnerungsstücken, Urlaubsfotos u. dergl. vor ca. 30 Jahren "entsorgt" –,
die um die Jahreswende 1942/43 entstanden ist, vielleicht Anfang Januar, nicht lange vor meinem ersten Geburtstag
im Februar. Darauf ist die Mutter mit mir vor einem Weihnachtsbaum zu sehen. Ich sitze oder stehe (plausibler!) in
Strampelhöschen und mit einem Strickmützchen auf ihren Knieen, sie hält mich an den Armen bzw.
Händen und sieht mich, den Kopf etwas geneigt, von der Seite an. Ausserdem befindet sich in diesem Arrangement
noch, irgendwo angebracht, ich kann nicht mehr sagen Wo und Wie, der Brautkranz (meine Vermutung!) der Mutter.
Es ist offenbar soetwas wie ein offizielles Geburtstagsfoto, vermutlich von einem Fotografen gemacht. Fast
hätte ich ein wichtiges Detail vergessen: ich bin deutlich erkennbar verheult!
Während der Vater, der sich im Winter 1941/42 – er war 39 – in Russland Erfrie- rungen –
an einem der kleinen Finger war die Fingerkuppe abgefroren – zugezogen hatte (kurz vor Beginn des Angriffs,
im Mai 1941 – wenn ich von meiner Geburt neun Monate zurück rechne –, bin ich gezeugt worden),
bis zum Kriegsende als Zahlmeister in der Wehrmachtsverwaltung in Berlin Dienst tat, lebte die Mutter in unserem
Wohnort in Schlesien meistens allein mit den Kindern; um die Jahreswende 1942/43, als das Foto entstanden ist,
mit mir und meiner achtjährigen Schwester. Sicherlich hat an diesen Weihnachten, das durch den Krieg und die
vermutete Abwesenheit des Vaters eine besondere Bedeutung bekam, die Mutter mit mir und der Schwester,
möglicherweise gemeinsam mit Verwandten, den Heiligabend begangen, die Kerzen am Weihnachts- baum angezündet
und Weihnachtslieder gesungen. Ich denke nach der hier versuchten Realfiktion erscheint es
ziemlich plausibel, dass ich damals das erstenmal ein von der Mutter gestaltetes Weihnachten erlebt habe, auch
wenn die unmittelbare Erinnerung daran fehlt.
Nicht auszuschliessen ist, dass die von mir geschilderten "Musikstunden" am Volksempfänger bereits einen
Vorläufer in unserem Alten Zuhause hatten; ist doch anzunehmen, dass es in der Wohnung, in der die Familie
bis zu unserer Flucht lebte, ein Radio gab.
Bei dem Thema Weihnachten – um mit Fontane zu sprechen: "Das ist ein weites
Feld" – kommen mir unweigerlich Erinnerungen an Heiligabende und daran, wie ich die Bescherungen "unter
dem Weihnachtsbaum" später, in meiner Jugendzeit, erlebt habe. Schon frühzeitig muss sich das zwiespältige
Gefühl bei mir eingestellt haben, mit dem ich ihren Ablauf über mich ergehen liess, ohne eine echte
Freude und Anteilnahme zu empfinden, sondern nur aus Pflichtgefühl daran ging, die Geschenke mit einem eher
gekünstelten Ausdruck der Dankbarkeit auszupacken und die Lieder mitzusingen. Die Konkurrenz mit dem
jüngeren Bruder, die Angst, zu kurz zu kommen, die durch die willkürliche "Geschenkpolitik" (der eine
bekam etwas, das der andere nicht bekam, und umgekehrt) der Eltern eher angestachelt wurde, schwang immer mit.