Mehrere Jahre, nachdem ich dies geschrieben habe, bringt mich die durch die Corona-Krise geschaffene Ausnahmesituation dazu, mich noch einmal in diese jetzt 58 Jahre zurückliegende Vergangenheit, das Kapitel meiner Verhaftung und Verurteilung durch ein Ost-Berliner Gericht und der in einem Stasi-Gefängnis (damals Pankow) und anschliessend in der Haftanstalt Rummelsburg verbrachten Zeit zurückzuversetzen. Ich hatte in der darauffolgenden Zeit in Freiheit das Erlebte mit einem Gefühl betrachtet, Opfer des Kalten Krieges, der West-Ost-Konfrontation zu sein, die eine Folge von Hitlers Krieg, des Überfalls auf die Sowjetunion war, mit dem Ergebnis, dass diese ihren Machtbereich bis nach Mitteleuropa ausdehnen konnte, mit der DDR als Handlanger im Allgemeinen und, was den Bau der Berliner Mauer betraf, im Besonderen. Meine Schuld, besser: meine Verantwortung für das, was mir widerfahren war, lag darin, dass ich die Gesetzeslage resp. die Paragraphen, durch die die "Republikflucht" unter Strafe gestellt wurde, womit die DDR ihre Bürger praktisch einsperrte – was ganz allgemein als Unrecht, als ein Verstoss gegen die Menschenrechte und daher als inakzeptabel betrachtet wurde –, bewusst, im Sinn einer höher zu bewertenden Freiheit, ignoriert habe. Indem ich den politischen Realitäten zuwider gehandelt habe, habe ich gegen DDR-Gesetze verstossen, womit meine Verurteilung nach der gültigen Rechtslage scheinbar "in Ordnung" ging, sofern ein Verstoss zweifelsfrei vorlag – aber wie sah es von Nahem betrachtet aus?

    Es ist sicherlich müssig, sich nach so langer Zeit die damaligen Vorgänge noch einmal zu vergegenwärtigen, um den Ungereimtheiten der Anklage und der Prozess- führung auf die Spur zu kommen, in denen sich der Unrechtsstaat DDR manifestierte, denn bei einem rechtsstaatlichem Vorgehen hätte ich, nach einem Verhör und vielleicht einem kurzen Gewahrsam, nachdem man mir das, was mir vorgeworfen wurde, Beihilfe zur "Republikflucht" einer Ost-Berliner Familie, nicht beweisen konnte, wobei es sich bis zu diesem Zeitpunkt um eine bloss geplante Flucht handelte, nach Hause geschickt werden können: Wozu hatte ich Beihilfe geleistet, vor allem in Anbetracht dessen, dass es für die Leute offenbar keine Konsequenzen hatte, d.h. sie in Freiheit blieben, denn sie gelangten einige Zeit später in den Westen. Aber da die "Republikflucht" und das, was mit ihr zusammenhing, als ein Verbrechen gegen den Staat betrachtet wurde und die weitere Untersuchung des "Falls" somit zu einer Sache der Stasi wurde und ich nicht in "normale" Untersuchungshaft kam, sondern in ein Stasi-Gefängnis gebracht wurde, war damit eine spätere Verurteilung praktisch schon vorgegeben.

    Als ich R., einen bereits in den ersten Wochen nach dem Mauerbau geflüch- teten Familienvater, der Pläne schmiedete, wie er seine in Ost-Berlin zurückgelassene Familie nachholen könnte, kennenlernte und als sein Kontaktmann, es war kurz vor Ostern, mit einigen Konsumgütern, Kaffee, Südfrüchte u.a., hinüberfuhr, hatte ich nur den Auftrag, der Frau mitzuteilen, dass die schon vereinbarten konkreten Schritte abgesagt seien und die Fluchtpläne vorerst aufgeschoben werden müssten. Ich hatte R. nämlich am Abend zuvor in einem Gespräch von einem in meinen Augen wahnwitzigen Plan abgebracht, der vorsah, dass er an einem noch wenig gesicherten Abschnitt der Grenze durch den Landwehrkanal schwimmen, den Stacheldraht durchschneiden und die auf der anderen Seite wartende Frau und die Kinder auf demselblen Weg in den Westen bringen wollte.