Ich fuhr also an einem der ersten schönen Frühlingstage im April nach Ost- Berlin, wo ich im vorangegangenen Wintersemester – einmal um eine Aufführung des Arturo Ui im Berliner Ensemble zu sehen – vielleicht ein- oder zweimal gewesen war. Mit meinem bundesrepublikanischen Reisepass konnte ich in die DDR einreisen (westdeutsche Studenten waren mit ihrem Pass als Kuriere für Fahrten nach "drüben" besonders geeignet). Mit der Wegbeschreibung R.s fuhr ich mit der Strassenbahn nach Weissensee zur Wohnung der Familie, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich weiss nicht mehr, ob die Frau mir öffnete, oder einer der Männer, Kriminalbeamte oder Stasi-Angehörige, die sich bereits in der Wohnung befanden. Ich habe später erfahren, dass wohl irgend jemand im familiären Umfeld, ein IM, die Fluchtabsichten verraten hatte. Ich wurde in einem der schwarzen EMW-Wagen weggefahren, die ich, wenn sie schon bei meinem Eintreffen vor dem Haus standen, jedenfalls nicht bemerkt habe.

    Ein Sich-Ausmalen, eine Vorstellung eines anderen Verlaufs des Geschehenen, die sich wohl nur durch die weitgehende Isolation, die von diesem unerhörten Corona-Effekt, dem Abgeschnittensein von den gewohnten sozialen Kontakten verursachte Rückwärtsgewandtheit erklären lässt: Wären mir die schwarzen Autos aufgefallen und hätte ich sie, wie vielleicht ein DDR-Mensch, als Stasi-Fahrzeuge erkannt, dann hätte ich einfach nur weiterzugehen brauchen... Worauf ich aber mit meiner Schilderung des Ablaufs hinaus will, ist dies: Was konnte man mir, nach rechtsstaatlichen Massstäben, wären sie angewandt worden, zur Last legen, auch nach dem ominösen Republikflucht-Paragraphen – da braucht man nicht einmal den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" zu bemühen –, da es sich zu dem Zeitpunkt um eine blosse Absicht zu einer "Republikflucht" handelte; jeder (westliche) Anwalt, meine ich, hätte gute Argumente gehabt, um die mir zur Last gelegte "Beihilfe" zu entkräften; mit den mit- gebrachten Lebensmitteln konnte ich ja wirklich als ein West-Besucher durchgehen, der kurz vor Ostern ein paar Mitbringsel überbrachte. Der rechtsstaatliche Schein wurde dadurch gewahrt, dass mir ein Anwalt zugewiesen wurde, mit dem ich, soweit ich mich erinnere, ein Gespräch geführt habe, in dem ich mich wortkarg voller Misstrauen zurückhielt, da ich auch bei ihm nicht ausschliessen konnte bzw. für selbstverständlich annahm, dass er mit der Stasi zusammenarbeitete.

    Es war eine Situation der Bedrohung von allen Seiten, in der das Misstrauen gegen jedermann mein oberster Grundsatz wurde. In den ersten Tagen, als ich noch zu Verhören geholt wurde, bekam ich für eine kurze Zeit einen jungen Zellengenossen, bei dem ich den Verdacht hatte, dass er zu mir in die Zelle gesteckt worden war, um mit seiner "Berliner Schnauze" zu versuchen, mich ebenfalls zum Reden zu bringen und mir Informationen zu entlocken. Übrigens wurde mir später das, was ich an Mitbringseln bei mir gehabt hatte – die für diese sowie für eine weitere Familie bestimmt waren, die ich hätte besuchen sollen, was ich in den Verhören natürlich verschwieg – unter anderem Südfrüchte, Bananen sowie "Alete"-Kindernahrung im Glas, zum Verbrauchen in die Zelle gebracht. Zwei Monate später gelang es R., seine Familie – die wieder frei- gekommen war! – auf einem ganz anderen Wege in den Westen zu holen. Ich habe übrigens von ihnen nie wieder jemanden getroffen, habe nur erfahren, dass die Ehe später in die Brüche gegangen ist und R. nach einer erneuten Heirat ausgewandert ist.