Sammle ich also weitere Negativ-Erlebnisse, davon hatte ich doch genug. Und doch fallen mir auf Anhieb nur
bruchstückhaft bestimmte Situationen ein wie zum Beispiel das gemeinsame Essen zu Mittag in der Mensa in
den ersten Semestern an der Uni. Wir sassen in einer Gruppe zusammen am Tisch – genau genommen sassen nur
die anderen, in lebhafte Gespräche verwickelt, wirklich zusammen, während ich nur stumm dabei sass und
ganz absorbiert war von meinen somatisch-vegetativen Reaktionen, denen ich mich ohnmächtig ausgeliefert
fühlte, den Schweissausbrüchen und einem Blutandrang zum Kopf, unfähig, das Essen zu geniessen,
ebenso wie ich nicht in der Lage war, mich am Gespräch der anderen zu beteiligen. Ich blieb abseits mit dem
Gefühl, nicht dazuzugehören, wie wenn ich nicht existieren würde.
Eine weitere typische Situation, in der ich mit meinen abnormalen vegetativen Reaktionen konfrontiert war, ergab sich,
wenn ich mit Studienkollegen zu einem Bier in eine Kneipe mitging. Die Wirkung des Alkohols war ebenfalls die,
dass mir das Blut zum Kopf stieg; in meinem Gesicht bildeten sich rote Flecken, die ich als ein unange- nehmes Brennen
spürte und die ein Studienfreund einmal als hysterische Flecken bezeichnete, wobei er mit dem
Finger die Form eines solchen Flecks auf meiner Backe nachzeichnete. Die Folge solcher Negativ-Erfahrungen war, dass
ich, da ich mich bei gemeinsamen Kneipenbesuchen häufig unbehaglich, unwohl in meiner Haut, ja beklom- men
(infolge eines Absinkens des Tonus) fühlte, an diesen wenig Vergnügen fand.
Eine Form des Errötens mit dem terminus technicus "Erythrophobie" wird gewöhnlich auf der psychischen Ebene von Schamgefühl begleitet und wirkt sich als sehr belastend und störend im Umgang mit anderen Menschen aus. Unter diesem emotionalen Erröten habe auch ich gelitten, bis es im Lauf der psychoanalytischen Behandlung weitgehend verschwunden ist. Es hatte sich unter anderem als schwere Beeinträchtigung im Studium herausgestellt, da es die Ursache für meine Unfähigkeit war, vor einer Gruppe, beispielsweise in einem Seminar, mich zu Wort zu melden; auf Grund dessen war ich auch ausserstande, einen der Vorträge zur Erlangung der für das Diplom erforder- lichen Seminarscheine zu halten.
Was die oben von mir beschriebenen vegetativen Reaktionen wie der Blut- andrang zum Kopf angeht, der beispielsweise auch beim Kartenspiel, "in der Hitze des Gefechts", oder bei einem Streit auftritt, scheint es sich eher um andere Gefühls- regungen zu handeln, um eine Angst zu unterliegen oder elementarer: um Neid auf den phantasierten Triumph des Rivalen bzw. Gegners (und Scham!) bei gleichzeitigem mit latenter Aggressivität gepaartem Wunsch, ihn seinerseits zu unterwerfen. In dem oben angesprochenen Szenario eines Seminarvortrags ist die Situation dadurch kompli- zierter, dass ich mit zwei unterschiedlichen "Gegnern" konfrontiert bin: mit dem Professor/Vater einerseits, der meine Leistung bewertet; auf der anderen Seite sehe ich mich – in meiner von der Angst, blossgestellt zu werden, geprägten Vorstellung – Mitbewerbern gegenüber, die auf Fehler oder Schwächen in meinem Vortrag lauern, um sich mit Einwendungen zu profilieren und mich als einen Konkurrenten herabzusetzen.