Bei einer der Reisen, die ich in den Jahren 1965 bis 1972 hauptsächlich per Auto-Stop unternahm – durch Frankreich und Spanien, durch Griechenland, die Türkei sowie nach Marokko, bis zu abgelegenen Ortschaften im Süden des Landes, wo die Sahara mit den ersten Sanddünen begann – hatte ich am Strand von Biarritz eine französische Studentin kennnengelernt. C. war so um die zwanzig und verbrachte dort, wo sie auch zu Hause war, ihre Ferien. Mit ihr traf ich mich drei Wochen später in Südfrankreich, in Aix-en-Provence, wieder, wo sie ihre Ausbildung zur Sportlehrerin machte.

    Diesem Treffen vorangegangen war ein unerfreuliches Erlebnis am Strand von Cassis: ich hatte Anschluss an zwei oder drei Deutsche gefunden; einer von ihnen, wie sich herausstellte ein Dauer-Camper mit einem geräumigen Zelt, bot mir an, dass ich darin schlafen könne. Als sie am Abend noch ein Lokal, eine Bar oder etwas in der Art, aufsuchten, schloss ich mich ihnen an. Wir tranken zusammen ein paar Gläser Pastis; von denen ich vermutlich nicht wirklich betrunken, höchstens etwas beschwipst war, sicherlich aber in einer aufgelockerten Stimmung; jedenfalls führte das gemeinsame Trinken zu einer Vertraulichkeit, und vertrauensselig legte ich mich schlafen, nicht ohne vorher die Jeans auszuziehen. Als ich sie am nächsten Morgen wieder anzog, fiel mir – zu spät – der Hundert-Mark-Schein ein, den ich zusammengefaltet in dem kleinen Aussentäschchen stecken hatte. Er war weg; einer der "vertrauenswürdigen" Landsleute (meiner Erinnerung nach ein athletischer blonder "germanischer" Typ von ca. 1.85 Metern, also ein paar Zentimeter grösser als ich) hatte, als ich schlief, meine Hose gefilzt, hatte das Geld gefunden und war – nach Paris, wie wir vermuteten – verschwunden.

    Fast ohne Geld, blieb ich noch einige Tage, in denen ich auf eine Überweisung wartete, wegen der ich die Eltern anschreiben musste. Dem Zelt-Inhaber gegenüber, der vorgab, ebenfalls kein Geld mehr zu haben, war ich jetzt sehr misstrauisch; ich schloss nicht aus, dass er sich ahnungslos gab, dass er vielmehr mit dem verschwundenen Dieb gemeinsame Sache gemacht hatte (einen Anteil von dem Hundert-Mark-Schein konnte er allerdings schlecht bekommen haben); dass der gemeinsame Bar-Besuch vielleicht sogar eine Falle war, um mich durch den Alkohol-Genuss unvorsichtig werden zu lassen. In der Hoffnung, etwas Geld zu bekommen, sammelten wir Milchflaschen, einen halben Plastiksack voll, und versuchten, allerdings ohne Erfolg, in einem Supermarkt das Pfand dafür zu kassieren. Dass ich in den nächsten Tagen Geld erwartete, behielt ich für mich; von einem holländischen Au-pair-Mädchen konnte ich mir zur Überbrückung etwas Geld leihen, zwanzig Francs waren es glaube ich; ich schickte ihr die Summe später, zusammen mit einer Schallplatte mit dem Amsterdam-Chanson von Jacques Brel als Dank: Dans le port d'Amsterdam il y a des marins qui chantent... (oder so ähnlich).

  Die Zeit des Wartens vertrieb ich mir durch Lesen: ich fand ein in dem Zelt herumliegendes, etwas zerlesenes Livre de Poche, ein Roman von André Gide. An diese Lektüre erinnere ich mich nach vierzig Jahren ebenso wie an andere, ebenfalls mit bestimmten Urlaubssituationen verknüpfte Lese-Erlebnisse: so z.B. an das mit Flauberts Éducation Sentimentale (in einer französischen Ausgabe) in St.Valéry an der Kanalküste; oder auch an die Madame Bovary (als Reclam-Bändchen) bei einem Elba-Urlaub.