2015 Das Gedenken Anfang des Jahres an die Bombardierung Dresdens vor siebzig Jahren. Zwar habe
ich keine eigenen Erinnerungen an jene Zeit, ich kann aber ziemlich genau sagen, wo wir, d.h. die Mutter mit uns
Kindern – mir, meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder –, uns damals befanden,
denn fünf Tage zuvor, an meinem dritten Geburtstag, hatten wir, nach den Erzählungen der Mutter, unseren
Heimatort in Oberschlesien verlassen und uns auf die Flucht begeben, in einem Flüchtlingszug mit Ziel Dresden,
um dann weiter nach Oesterreich befördert zu werden. Vor der Stadt wurde der Zug angehalten; er musste wegen
der Bombardierung am Tag zuvor umgeleitet werden. Wir verbrachten dann einige Zeit in einem Auffanglager, und zwar
ausgerechnet in Braunau, dem Geburtsort Hitlers. Der Gedanke an diese Ereignisse stellte sich bei historischen
Rückblicken bei mir ein, vor allem wenn darüber spekuliert wurde, wieviele Flüchtlinge, die sich
während der Luftangriffe in der Stadt aufhielten, sich unter den Opfern befunden haben könnten. Wenn
unsere Mutter auf diese Geschehnisse zu sprechen kam, dann immer mit der Bemerkung, welches Schicksal uns
hätte treffen können, wenn wir uns in einem früheren Zug befunden hätten.
Der Krieg war schon vorher unübersehbar in mein Leben eingedrungen, allein dadurch, dass der Vater Soldat
und dadurch bedingt abwesend war (vermutlich auch bei meiner Geburt Anfang 1942, als die Wehrmacht in die Sowjetunion
eingedrungen war) und ich ihn nur einige wenige Male, wenn er den Urlaub mit der Familie verbrachte – woran
ich keine eigenen Erinnerungen habe –, überwiegend in Uniform (wie auf Familienfotos, die davon
existierten, zu sehen war) erlebt habe; sein Hirschfänger habe es mir besonders angetan. Seine Abwesenheit
dauerte durch seine Gefangenschaft weitere Jahre, bis zu meinem sechsten Lebensjahr, bis er nach seiner
Rückkehr und einem Neuanfang die Familie nachholen konnte.
Eine Episode, an die ich ebenfalls keine eigene Erinnerung habe, kenne ich nur aus Erzählungen der Mutter. Es
sind auch nur vage Bruchstücke des Vorfalls – ich muss etwa zweieinhalb Jahre alt gewesen sein –,
den sie vielleicht nur ein oder zwei Male in meiner Jugendzeit erwähnt hat. Es muss im Sommer oder Herbst des
Jahres 1944 gewesen sein, als unser Ort, wo die Familie eine Dienstwohnung in der kleinen Schule bewohnte, an der
mein Vater als Lehrer angestellt war, schon in Reichweite russischer Flugzeuge war. Ich stand in einem Kinderwagen
auf dem Schulhof, als ein Jagdflugzeug im Tiefflug darüber hinweg flog. Dies wurde auch von der Mutter im Haus
bemerkt, woraufhin sie herauskam, um nach mir zu sehen. Sie muss offenbar auch Schüsse gehört haben, denn
man habe den Boden abgesucht und Munition gefunden, ich war allem Anschein nach von dem Flieger unter
Beschuss genommen worden. Es erscheint mir heute als bezeichnend für unsere damalige Kommunikation, dass ich
mir ihre Erzäh- lung, wobei sie häufig über mich in der Er-Form wie zu einem unbestimmten Zuhörer
sprach, wortlos anhörte, als beträfe der Vorfall gar nicht mich, und ohne nach Einzel- heiten zu fragen,
beispielsweise wie ich darauf reagiert habe, ob ich etwa geweint habe oder verschreckt war, oder ob ich
danach verstört gewesen bin.
[Heute frage ich mich, wie weit mir, einem Zweieinhalb-jährigen, damals ins Bewusstsein gedrungen ist, dass man
mich töten wollte!]