Die beiden letzten Aussprüche waren die Reaktion, als offensichtlich wurde, dass ich – etwa mit siebzehn, ca. zwei Jahre vor dem Abitur – sonntags nicht mehr zur Messe ging und damit kundtat, dass ich mit der Religion "nichts mehr am Hut" hatte, womit ich der sehr religiösen Mutter zweifellos einen tiefen Schmerz zufügte. Das Resultat des in ihrer Erregung sowie Enttäuschung wegen meines Abgleitens in die Gottlosigkeit über mich gefällten Urteils war eine zunehmende Entfremdung, die meinerseits durch meinen Kirchenaustritt – von dem sie allerdings nichts mehr erfuhr – endgültig wurde und die zur Konsequenz hatte, dass ich nach der Beerdigung des Vaters – ich war 34 – jeden Kontakt zu ihr abbrach und sie in den folgenden 28 Jahren bis zu ihrem Tod vollständig aus meinem Leben eliminierte.

    Dabei muss ich, wenn ich einige Erinnerungen im Nachhinein richtig interpretiere, zu dem Schluss kommen, dass ich als der Ältere von uns zwei Brüdern (so sprach sie von mir als dem Grossen, was von ihm, dem Kleinen, sicherlich als kränkend und als Zurücksetzung erlebt worden sein muss) von der Mutter bei bestimmten Gelegenheiten eine bevorzugte Rolle zugewiesen bekommen habe. Ich erwähnte schon die Zugfahrt zum Vater nach W. um die Jahreswende 1947/48. Eine weitere Vermutung, die ihr Verhältnis zu mir betrifft und die auf eine ganz spezielle Weise mit Religion zu tun hat, will ich hier einschieben.

  Wir – die Mutter mit uns drei Kindern – lebten in diesen drei Nachkriegs- jahren, ungefähr von meinem dritten bis zum sechsten Lebensjahr, bis der Vater uns 1948 zu sich holen konnte, als Katholiken in einer protestantischen Umge- bung, sprich in der Diaspora, und in grösseren Abständen kam ein katholischer Priester und hielt in der – protestantischen – Kirche für die wenigen Katholiken in der Gegend, wohl hauptsächlich Flüchtlinge wie wir, eine Messe ab.

    Dabei muss ich wohl für den Ornat sowie die Utensilien, Messkelch usw., die zum Lesen einer Messe nötig sind und die der Priester in einem Koffer mit sich führte, ein besonderes Interesse gezeigt haben, jedenfalls wurde ich darauf angesprochen, ob ich später auch einer werde wolle, was für unsere protestantischen Wirtsleute ein Anlass war, mich damit aufzuziehen, dass Priester keine Frauen haben und ich dann auch nicht heiraten dürfte. Mein später aufkommender Verdacht war, dass dies einem geheimen Wunsch meiner Mutter entsprach – wahrscheinlich machte sie derartige Andeutungen –, nämlich "dem lieben Gott einen Sohn zu schenken". Dies machte ich ihr insgeheim für lange Zeit zum Vorwurf. Meine Abkehr von der Religion stellte somit die radikalste Ablehnung ihrer von einer exzessiven Gläubigkeit – ich erinnere mich, dass in unserer Wohnstube ausser einer Reproduktion der Sixtinischen Madonna auch ein Bild vom Papst, von Pius XII. und dann von seinen Nachfolgern, an der Wand hing – geprägten Lebenseinstellung dar.