Ich habe später, als ich anfing, in einigen meiner frühesten Erinnerungen mehr als nur das Anekdotische zu sehen, versucht, in ihnen die tiefere Bedeutung, vielleicht so etwas wie Weichenstellungen für meine weitere Entwicklung zu erkennen. So speku- lierte ich im Zusammenhang mit meinem oben geschilderten "Ausbüchsen" am Tag unserer Flucht – wobei es sich nicht um eine eigene Erinnerung handelt –, ob sich darin nicht eine frühe Distanzierung von der Familie – wenn auch nicht bereits ein Bruch, so doch eine beginnende Entfremdung, eine Absetzbewegung von der Mutter – mani- festierte, die in einer Grössenwahn-haften Selbstüberschätzung gipfelte, mit der ich glaubte, mich ganz auf mich allein gestellt in Sicherheit bringen zu müssen.

    Natürlich sind – Stichwort: überdeterminiert! – andere Interpretationen möglich: als eine plausible erscheint mir die, dass ich die Suche nach mir provozieren wollte, als Beweis dafür, dass die Mutter mich nicht einfach zurücklassen konnte. Hier eine weitere: möglicherweise wurde ich von den Panzern, dem Motorenlärm und ihrem phallischen Geschütz-Rohr magisch angezogen – oder ebenso naheliegend war, dass ich sie als etwas Bedrohliches wahrnahm. (Später tauchten, im Zusammenhang mit meiner Analyse, Kriegsszenen dieser Art, in denen ein Panzer mit auf mich gerichtetem Geschütz-Rohr vor mir in Stellung ging, in einigen Träumen wieder auf.)

    Nach einiger Zeit im Flüchtlingslager in Oesterreich kamen wir von dort nach Nord- deutschland, wo wir – vermutlich im Rahmen einer Verteilungspolitik der Besatzungs- mächte – in einem Dorf in der Nähe von Hamburg bei einem Bauern, der ein Zimmer für uns abtreten musste, einquartiert wurden. Dort verbrachten wir die ersten drei Nachkriegsjahre ohne den Vater.

    Eine Erinnerung aus dieser Zeit vor der Rückkehr des Vaters, die mir als charak- teristisch für das "Frauen-Regiment" erscheint, unter dem ich mich befand: Eine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, war zu Besuch gekommen, und es wurde ein Ausflug in das nahe Hamburg unternommen. Ob auch die Schwester und der Bruder dabei war, bleibt in meiner Erinnerung unklar. Ausser einem Besuch im Tierpark Hagenbeck, von dem mir als einziges Tier ein Elefant in Erinnerung geblieben ist, offenbar davon beeindruckt, was er mit seinem Rüssel so anstellen konnte, wie er mit ihm aus einem vor ihm stehenden Eimer Wasser aufnahm und sich damit den Rücken bespritzte, fuhr man, offenbar bei schönem Sommerwetter, zu einem Strand an der Elbe. Von diesem Strandbesuch hat sich mir ein vorbeifahrendes Schiff, das mir riesengross vorkam, als symbolträchtiges Bild – eine Deckerinnerung!? – erhalten. Dagegen ist mir von den Zerstörungen der Stadt, durch die wir ja auch fuhren, kein bleibender Eindruck geblieben.

    In einer weiteren Erinnerung besuchen wir das Alte Land mit seinen Obst- Plantagen. Wir laufen durch die langen Baumreihen, es muss zur Kirschen-Zeit gewe- sen sein, denn es stand offenbar die Versuchung von etwas Verbotenem im Raum, näm- lich sich zu bedienen und welche zu pflücken. Ich erinnere mich, wie ich an der Hand der Tante ziemlich aufgeregt versuchte, sie bis zur nächsten Wegkreuzung fortzuziehen, um Ausschau zu halten, ob auch keine Polizei zu sehen war. Ist es überinterpretiert, in diesem hoch emotionalen Geschehen, bei dem es darum ging, etwas Verbotenes zu tun, eine unbewusste Phantasie zu vermuten, dass sich hinter dem vermuteten Auftauchen eines Polizisten die Angst vor dem gefürchteten Vater verbarg?