Das Verhältnis zwischen mir und dem Vater hatte von Anfang an, d.h. von dem Zeitpunkt an, an dem meine bewusste Erinnerung einsetzt, nämlich als er nach der Kriegsgefangenschaft, wenn auch zunächst nur für kurze Zeit, wieder zur Familie stiess, einen Knacks, wobei ich nicht ausschliessen kann, dass unsere Beziehung schon durch negative Erinnerungen an ihn aus der Zeit davor belastet war: zwar bin ich durch seine Abwesenheit während meiner ersten sechs Lebensjahre ohne ihn aufgewachsen, hatte ihn aber doch vor Kriegsende einige Male, wenn er, wie schon erwähnt, einen Urlaub mit der Familie verbrachte, für kurze Augenblicke als Soldat in Uniform erlebt.

    Das Wiedersehen mit ihm nach seiner Rückkehr 1946 aus russischer Kriegsgefan- genschaft – er und die Mutter dürften sich um die zwei Jahre nicht gesehen haben, das letztemal vermutlich im vorletzten Kriegsjahr bei einem Besuch in B., von dem die Mutter erzählte, bevor er im "Endkampf" 1945 in Gefangenschaft geriet – fand auf einem Bahnsteig, im Bahnhof von Stade (oder war es vielleicht doch Hamburg?) statt, wohin wir uns zu seiner Begrüssung begeben hatten. Wir, das war die Mutter nur mit mir – ich war etwa viereinhalb Jahre alt – in meiner Erinnerung sind mein noch nicht drei Jahre alter Bruder und die Schwester jedenfalls nicht dabei. Ich verhielt mich dem Vater gegenüber abweisend, weigerte mich, ihn wiederzuerkennen. Die Mutter, die mich vermutlich mitgenommen hatte, um damit nach der langen Trennung ihre eigene Un- sicherheit und eine Fremdheit zu überspielen – die ich dann an ihrer Stelle ausagierte –, forderte mich auf, wobei sie mich an der Hand gepackt hielt: "Willst du den Vater denn nicht begrüssen?" Doch ich wollte ihn nicht ansehen und blickte verstockt zum Boden.

    Eine weitere Gelegenheit, bei der ich mich als der Ältere von ihr bevorzugt gefühlt haben muss, war eine Fahrt um den Jahreswechsel 1947/48 herum, ich war also nicht ganz sechs, mit einem Nachtzug zum Vater nach W. im entfernten Nordrhein-Westfalen, von der mir als Erinnerung geblieben ist, dass ich einmal aufgewacht bin: wir hielten im Bahnhof von Hannover, und ich las auf der Bahnhofsuhr, dass es halbzwei war. Der Vater hatte nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft recht schnell in W. eine Anstellung als Lehrer gefunden. Es war das erstemal, dass ich in den Ort kam, in dem ich dann meine Schulzeit bis zum Abitur verbrachte.

    Die Mutter hätte doch auch allein fahren können, um allein ihrem Mann entgegen- zutreten, zu dem Wiedersehen nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ebenso wie bei diesem Besuch, dessen Grund vermutlich war, dass sie etwa im dritten Monat schwanger war (wovon ich natürlich keine Ahnung hatte, ich wusste vermutlich nicht einmal, was das ist) – in der Mitte des Jahres wurde meine Schwester geboren –, und nicht mir eine Rolle zuzuweisen, in der ich als Verstockter bzw. als Versager dastand? Ein objektiver Grund für die Mutter, mich mitzunehmen, mag gewesen sein, dass es für unsere 13jährige Schwester leichter war, sich während ihrer Abwesenheit nur um einen Bruder zu kümmern. Für mich bedeutete der Besuch jedenfalls, dass ich wiederum eine Rolle zugewiesen bekam, diesmal die, als Vaters vorzeigbarer Sohn aufzutreten, schüchtern oder hölzern und linkisch, wie eine Marionette fremdbestimmt, beispielsweise dem Schulrektor, seinem Vorgesetzten, gegenüber.