Eine Krise wie diese hätte ich ohne den Rückhalt durch die Analyse wohl kaum durchgestanden. Wenn auch ein Missverständnis der Auslöser war, so lässt sich aus meiner Verzweiflungsreaktion auf einen imaginierten Verlust und dem davon ausge- lösten seelischen Einbruch auf eine Wiederholung eines früheren Verlusterlebnisses, einer aus der Kindheit herrührenden Verletzlichkeit schliessen. Zweifellos hatte sich in dem rein fiktiven Raum der hin und her gehenden Briefe für uns beide etwas Neues, eine suggestive Phantasie, eine Art Folie à deux entwickelt – ähnlich wie heute bei manchen Internet-Beziehungen per E-mail, nur dass damals alles langsamer vonstatten ging –, wobei es meiner Meinung nach nicht nur auf ihren Inhalt ankam, auf das, was wir in ihnen verbal austauschten; es ging vor allem, für mich und – ich denke, davon kann ich ausgehen, ähnlich auch für L. – um das DURCHHALTEN, um die Aufrecht- erhaltung der Spannung, darum, den kontinuierlichen Fluss der Briefe, mit denen wir uns gewissermassen gegenseitig fütterten, nicht abreissen zu lassen, womit wir unserer Hoffnung (wie Freud es formulierte: das Vor-sich-hin-Projizieren des Narzissmus) Nahrung gaben.

    Um meine Zeit mit etwas Sinnvollem auszufüllen, verbrachte ich sie unter anderem damit, das Klassische Gitarrespielen zu lernen bzw. mich darin zu verbessern, übte Stücke ein, französische – eines mit dem Titel Le Rossignolet sowie Jeux Interdits, eine bekannte Melodie aus dem gleichnamigen Film (ich versuche, mit Hilfe solcher scheinbar nebensächlicher Details meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen) –, spanische, brasilianische, sowie Präludien und einige leichte Sätze aus Suiten von J.S.Bach. Ich erwähne das, weil ich natürlich in der Stunde darüber gesprochen habe und ich wohl auch eine Phantasie entwickelt habe, die Gitarre mitzubringen und vor ihr, der Analytikerin, zu spielen. Ich lechzte nach narzisstischer Bestätigung, nach einer Aufwertung meines als wertlos empfundenen Lebens.

    Die Gitarre kam in Träumen vor wie in diesem: ich warte an einer Bushaltestelle mit der Gitarre in der Hand. Es fängt an zu regnen, und da ich sie mit der Öffnung nach oben halte, können Regentropfen hineinfallen. Möglicherweise drehte ich sie auch um, damit es nicht mehr hineinregnete. Auch erinnere ich mich vage an völlig realitätsferne Ideen von einem Leben in exotischen Ländern wie z.B. Indien, von dem ich mir ein idealisiertes Bild geschaffen hatte, wobei ich mir ein Leben fast ohne Bedürfnisse vorstellte. Vor der ausweglosen Realität hatte ich die Flucht in imaginäre Träume von fernen Gegenden angetreten. An der Wand meines Zimmers hatte ich Fotos aus einer Illustrierten angebracht, es waren Ansichten von der Sahara, dem Hoggar-Gebirge, von Tamanrasset und den Tuareg. Die Wüste übte einen besonderen Reiz auf mich aus, sie war Ausdruck dessen, wie sehr mein Leben verarmt war; ihre Leere wie auch die in ihr herrschende Dürre spiegelten gut meinen inneren Zustand wider.

  [Anm.: In der Rückschau scheint mir der Traum von der Gitarre, in die Regentropfen hineinfallen (oder nicht hineinfallen sollen), zwei Elemente zu enthalten, deren Bedeutung viel später, teilweise erst in der zweiten Analyse, deutlicher wird: die Gitarre mit dem eine Leere umschliessenden Hohlkörper (in dem aber auch eine Resonanz erzeugt werden kann); sowie die Regentropfen als Vorboten der später auftauchenden Wasser-Symbolik.]