Indem ich mein Gedächtnis bemühe, konkretere Einzelheiten ans Tageslicht zu holen, verspüre ich
gleichzeitig einen Widerstand, etwas, das sich dagegen sträubt, die zum Teil verschütteten Erinnerungen
wieder freizulegen bzw. herzugeben. Ist es Scham, nein eher ein genereller Unwillen dagegen, die alten
Unglücksgefühle von damals wieder aufzurühren, die Unzufriedenheit, den Hader mit mir selbst,
von dem mein Leben beherrscht war, wieder hochkommen zu lassen.
Eine Erinnerung, die besonders mit einem Gefühl des beklemmenden Unbehagens und eines ohnmächtigen
Ausgeliefertseins verbunden ist, betrifft mein krankhaftes Erröten. Krankhaft? Ich konnte
dieses Phänomen nie als Krankheit begreifen, auch nicht, als ich Bekanntschaft mit dem medizinischen
Fachausdruck Erythrophobie machte, denn für meine Umgebung war ich ja nicht krank,
ich hatte nur diese besondere Auffälligkeit. Verbunden damit war auch eine Scham-Anfälligkeit, die
mich in der Schule in einige von mir als traumatisch erlebte Situationen brachte, wenn ich vor der Klasse
etwas vortragen sollte. Es war übrigens dieses Erröten, auf das mich D.A., als wir uns bei meinem
Klinikaufenthalt die Hand gaben, als erstes ansprach und das er in seiner unverblümten Art als Ausdruck
einer homosexueller Regung interpretierte. Für mich ähnelte es eher einem Gebrechen, unter dem ich
litt – in der Schule war es Anlass für Hänseleien und war wohl eher Ausdruck unterdrückter
Agressivität (möglicherweise doch die Kehrseite einer homosexuellen Regung?) –, etwa so wie wenn
ich beispielsweise eine schiefe Nase oder abstehende Ohren gehabt hätte.
Dieser heutige Vergleich, der mir damals wohl eher nicht in den Sinn gekom- men ist, trifft es natürlich in einem Wesentlichen nicht: an die Beschaffenheit seiner Nase oder der Ohren denkt man irgendwann nicht mehr; im Gegensatz zu dem unmittelbar erlebten situativen Erröten, was es zu etwas Einzig- artigem, zu soetwas wie einem Stigma macht, als das ich es erlebt habe.
Die Beziehung zu meinem Problem mit Mädchen bzw. Frauen springt einem sichtbar ins Auge: wenn ich nämlich meine Hemmung überwand, eine ansprach und dabei errötete, stand es mir im wahrsten Sinn des Wortes "ins Gesicht geschrieben". Es war wohl eher so, dass das Rotwerden mir meine Männlichkeit nahm ("nur Mädchen erröten") – oder dass mein Zweifel, ob ich in den Augen einer Frau männlich genug erschien, mich erröten liess. Was ist Ursache und was ist Wirkung? Tatsächlich ist das Erröten "wie von selbst" weitgehend verschwunden, nachdem ich im Laufe der Jahre eine Reihe von Beziehungen zu Frauen gehabt habe, was aber nicht bedeutete, dass meine Schwierigkeiten, Frauen anzusprechen, damit behoben gewesen wären. Ihre Ursache ist allem Anschein nach in einer tieferen Schicht zu suchen, etwa in einer durch Verbote eingeschränkten Sprachfähigkeit, bei mir sich steigernd bis hin zu einer resignativen Sprachlosigkeit.